Vorspann zu
Günther Anders- Die Welt als Phantom und Matrize
Erich Blechschmidt - Sein und Werden
"Jedes ist nun, weil es bleibt. Jedes ist nun, weil es Bild
ist.
"Sein" bedeutet also: Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein
und Eigensein.
Im Grunde genommen ist es das Museumsprinzip das triumphiert,
als autobiographisches Prinzip,
jedem begegnet sein eigenes Leben in Form einer Bilderserie, als eine Art "autobiographische
Galerie"
alles Gewesene ist in die eine Ebene des verfügbaren und gegenwärtigen
Bildseins projiziert." (Zitat G.Anders,s.182)
Nun ist meine Stellung dazu folgende:
Wenn es einen Weg gibt, alles Sein in ein Gewesenes durch Bilder zu bringen
- muss auch der umgekehrte Weg möglich sein:
Alles Werdende kann in die Ebene des verfügbaren und gegenwärtigen
Bildseins gehoben werden. Es müsste sogar so das SEIN werden, um dem Sichtbaren
zugänglich zu sein.
Jedes Leben kann in Form einer Bilderserie als autogenetische Galerie geboren
werden. Damit wäre die embryologische Bildgalerie eingeleitet!
Textauszug von Günther Anders- die Antiquitiertheit des
Menschen
§ 19
Waren sind getarnte Urteile. Phantome sind Waren.
Phantome sind getarnte Urteile
Nun wird man unser Beispiel ganz uncharakteristisch finden. Nicht
jedes Phantom, wird man einwenden, sei die Exhibition eines p; nicht jedes -
denn in diese Klasse gehört ja unser Beispiel - sei Reklame; also auch
nicht jedes ein Urteil bzw. ein Vorurteil. - Daß nicht jedes auf so penetrante
Weise Reklame macht wie der zu diesem Zwecke erfundene Kandidat Smith, sei zugegeben.
Aber was bleibt, ist, daß alle Phantome, da sie ins Haus geliefert werden,
Waren sind. Und das ist ausschlaggebend. Denn als solche sind sie Urteile.
Das klingt von neuem sonderbar. Was soll das Urteil, das in die Logik gehört,
mit der Ware, deren Platz in der Oekonomie ist, gemein haben?
Die Antwort lautet: Das Prädikat.
Jede Ware ist nämlich, sofern sie ausgestellt ist und sich an-bietet -
und nur als solche, nur als Angebot ist sie ja Ware - be-reits ihre eigene Beurteilung;
und zwar ihr Eigenlob. Im Auf-treten empfiehlt sie sich bereits; im Schaufenster
liegt sie bereits als sichtbares Vorurteil ihrer eigenen Qualität. Gewiß:
in den Satz "S ist p" zerlegt sie sich so wenig wie unser Kandidat
Smith; aus-gesagt wird ihre Qualität nicht, jedenfalls nicht notwendigerweise
(wenn auch oft genug im Reklametext); auf jeden Fall aber wird sie arrangiert.
Und Arrangement besagt, daß ihr p (also das, was mit ihr "los ist",
ihre wirkliche oder vorgebliche Qualität) so von ihr losgelöst und
als Lock-Eigenschaft derart herausgehoben und vorgeschoben wird, daß nun
eigentlich diese, und nicht die Ware als ganze sichtbar wird. Was dem Betrachter
geboten wird, ist also primär die Perspektive, unter der er die Ware "in
Betracht ziehen" soll; diese ist festgelegt und, noch ehe die Ware selbst
geliefert ist, bereits vorgeliefert.
Der Urteils-Charakter der Ware ist also unbestreitbar. Wenn wir im vorigen Paragraphen
feststellten, daß die negative Leistung der Nachricht darin bestehe, die
Freiheit des Adressaten zu be-schneiden, diesen auszurichten, den Gesichtspunkt,
aus dem er das Abwesende in Betracht ziehen soll, durch das Prädikat festzulegen
und diesen Gesichtspunkt bereits als Fertigware mitzuliefern, so ist damit zugleich
auch die Leistung der ausgestellten Ware be-zeichnet. Statt des Adressaten tritt
nun der Kunde auf, der, durch die Scheibe von der Ware noch getrennt, noch "abwesend",
aus dieser seiner Abwesenheit durch das ausgestellte p herausgelockt werden
soll, um Käufer zu werden. Aber diese Differenz tut der Parallelität
keinen Abbruch.
Daß die in Phantome verwandelten und ins Haus gelieferten Ereignisse Waren
sind, hatten wir schon zu Beginn unserer Unter-suchung festgestellt. Was von
jeder Ware gilt: daß sie ein Urteil,
Waren sind verbrämte Urteile
wenn auch ein verbrämtes ist, gilt auch von ihnen.* Auch sie sind also Aussagen über die Ereignisse, obwohl sie, "in Nacktheit ge-hüllt und behängt mit dem Schmuck fehlender Prädikate" sich als die Ereignisse selbst geben. Da kein Urteil so unverdächtig, so un-scheinbar, so verführerisch ist wie dasjenige, das angeblich nichts ist als die Sache selbst, liegt in ihrem Verzicht auf das ausgebildete "S ist p-Schema" ihre betrügerische Kraft. Was wir, vor dem Radio oder dem Bildschirm sitzend, konsumieren, ist statt der Szene deren Präparierung, statt der angeblichen Sache S deren Prädikat p, kurz: ein in Bildform auftretendes Vorurteil, das, wie jedes Vor-urteil, seinen Urteilscharakter versteckt; aber, da es heimlicher-weise eben doch eines ist, den Konsumenten davon abhält, seiner-seits noch einmal die Mühe des Urteilens auf sich zu nehmen. Wirklich zieht er diesen Gedanken auch nicht in Betracht, nicht mehr als anderen präparierten Waren gegenüber, als etwa gegen-über der bereits abgekochten Fruchtkonserve, die er ja kauft, um sie nicht selbst abkochen zu müssen. - Was von der Nachricht gilt: daß sie uns unfrei mache, weil sie uns das Abwesende nur in seiner vorgegebenen, präparierten, prädizierten Fertigwaren-Ver-sion zeigt oder gar nicht, das gilt um so mehr von der Sendung: Des eigenen Urteils sind wir enthoben; und um so gründlicher, als wir uns nicht dagegen wehren können, das gelieferte Urteil als die Wirklichkeit selbst entgegenzunehmen.
DIE MATRIZE
§ 20
Das Ganze ist weniger wahr als die Summe der Wahrheiten seiner
Teile - Realistische Tarnung der Schablonen bezweckt
Schablonisierung der Erfahrung
Letztlich freilich ist, was präpariert wird, um verkauft zu wer-den, nicht die einzelne Sendung. Diese ist unter Umständen sogar sogar
Originals.164 Die Welt als Phantom und Matrize
unpräpariert und objektiv wahr; viele von ihnen sind es
tatsäch-lich; und da die Lüge nichts so liebt wie das Alibi der Wahrheit,
mindestens der Teilwahrheit, sind sie es sogar gerne. Keine Lüge, die etwas
auf sich hält, enthält (nur) Unwahres. Was letztlich präpariert
wird, ist vielmehr das Weltbild als Ganzes, das aus den einzelnen Sendungen
zusammengesetzt wird; und jener ganze. Typ von Mensch, der ausschließlich
von Phantomen und Attrappen genährt ist. Auch wenn man alles einzelne als
solches wahrheitsgetreu sen-den würde, könnte man doch das Ganze,
allein schon dadurch, daß man vieles Wirkliche nicht zeigt, in eine präparierte
Welt, und den Konsumenten des Ganzen in einen präparierten Menschen ver-wandeln.
Dieses Ganze ist dann weniger wahr, als die Summe der Wahrheiten seiner Teile;
oder, in Abwandlung des berühmten Hegelsatzes: "Das Ganze ist die
Lüge; erst das Ganze." Die Auf-gabe derer, die uns das Weltbild liefern,
besteht also darin, aus vielen Wahrheiten ein Ganzes für uns zusammenzulügen.
Was man als Ganzes beabsichtigt, ist nun freilich kein theoreti-sches, sondern
ein pragmatisches Weltbild; und dieser Ausdruck soll nicht nur bedeuten, daß
das, was man nun anstelle von Wahr-heiten als angebliche Welt bietet, auf eine
bloß "subjektive Welt-anschauung" hinauslaufe*, sondern daß
es ein praktisches Gerät darstelle, ein Übungsgerät, das darauf
abzielt, unser Handeln, un-ser Erdulden, unser Benehmen, unser Unterlassen,
unseren Ge-schmack, mithin unsere gesamte Praxis überhaupt, zu formen;
aller-dings eben ein Gerät, das gleichzeitig, um diese seine Gerätbestim-mung
zu verbergen, als "Welt" verkleidet auftritt. Es ist ein In-strument
in Form eines pseudo-mikrokosmischen Modells, das sei-nerseits die Welt selbst
zu sein vorgibt.
Diese Formel klingt reichlich dunkel. Aber eine Analogie wird sie deutlicher
machen. In Planetarien haben wir nämlich Gegen-stände des gleichen
Typs vor uns: denn diese sind einerseits, da sie unsere Kenntnis (der Sternenwelt)
und unsere Praxis (der Stern-findung) einüben wollen, Geräte; aber
andererseits treten sie als mikrokosmische Modelle auf und versuchen als Mikromodelle,
frei-lich arglos, die Illusion hervorzurufen, der Sternenhimmel selbst zu sein.
- Vollends treffend wäre der Vergleich mit einem Pseudo-Planetarium, etwa
einem astrologischen, das uns, obwohl zu Un-
Das Ganze ist die Lüge
recht prätendierend, Modell des Sternenhimmels zu sein,
darin ein-üben wollte, die wirkliche Sternenwelt nach seinem Bilde zu sehen.
Ein Gegenstand dieses eigentümlichen Typs also ist die "Welt",
die durch die Sendungen aufgebaut und uns vermittelt wird: ein Reizmodell also,
auf das wir uns einspielen, mit dessen Hilfe wir "behavior patterns",
Muster von Verhaltensweisen, einüben und "reflexes" eingleisen
sollen; und zwar so tief eingleisen, daß wir nun durch diese Geleise außerstandegesetzt
sind, uns in der wirk-lichen Welt anders zu benehmen als vor dem Reizmodell;
und uns von der Welt anders nehmen und verwenden zu lassen als von diesem. Beabsichtigt
ist also eine Kongruierung der wirklichen Welt und des Modells. Diese Kongruierung
soll aber wiederum nicht in Form einer theoretischen Identitätsaussage
vor sich gehen, da diese ja bereits eine vorausliegende Verschiedenheit konzedieren
würde, sondern als "pragmatische Gleichung": also als effektive
Haltung in der Welt und als Behandlung der Welt, in der der Ver-dacht, daß
die Welt mit dem Reizmodell nicht kongruiere, mit die-sem nicht identisch sei,
überhaupt erst gar nicht auftauchen, oder wo er auftaucht, letztlich nicht
wirksam werden kann. Ein Beispiel für solche "pragmatische Gleichung"
ist aus dem nationalsozialisti-schen Deutschland bekannt: Für den Leser
des "Stürmers", der durch die dort veröffentlichen Judenmodelle
und durch das Modell der "verjudeten Welt" sein "conditioning",
seine Prägung, er-fahren hatte, war der Unterschied zwischen den wirklichen
Juden und deren Reizmodell nicht etwa nur unbeträchtlich, sondern ein-fach
nicht da; die Tatsache der Zweiheit von Wirklichkeit und Bild hatte er so wenig
aufgefaßt, daß er nun die wirklichen Juden so behandeln konnte und
tatsächlich so behandelte, als wären diese eben nichts als ihre Bilder.
Den Vorgang könnte man ge-radezu als "invertierte Magie" bezeichnen:
denn während der ma-gische Zauber dem Bilde dasjenige antut, was den Abgebildeten
treffen soll, wollte man hier, sofern die Unterscheidung noch gilt, das Bild
im Wirklichen treffen.*
In gewissem Sinne waren nun freilich diese Stürmer-Bilder noch recht altertümlich,
durchaus nicht auf der psychotechnischen Höhe, die der Nationalsozialismus
sonst bereits erreicht hatte; und es ist durchaus nicht undenkbar, daß
die Verachtung, die sich Streicher
166 Die Welt als Phantom und Matrize
sogar von jenen zuzog, die seine Liquidierungs-Ziele tatsächlich
durchführten, letzten Endes dieser Rückständigkeit seiner Methode
galten. Bei der Fabrikation von Reizmodellen und schablonisier-ten Reaktionen
ist ja nichts so wichtig wie die erfolgreiche Unter-schlagung der Tatsache,
daß es sich um Fabrikate handelt. Diese Unterschlagung aber hatte der
Stürmer nicht durchgeführt; d. h.: er hatte es aus (leider berechtigter)
Verachtung für die Ansprüche seiner Konsumenten noch nicht einmal
der Mühe für wert gehal-ten, zu verbergen, (laß er log; eine
Bequemlichkeit, mit der er eben sogar bei Massenmördern Anstoß erregte.
- Positiv ausgedrückt: es liegt im höchsten Interesse der Schablonen-Industrie,
ihren Scha-blonen ein Höchstmaß an Realismus zu verleihen. Soll das
scha-blonenhafte Reizmodell als Ganzes wirksam sein, so muß es als "Wirklichkeit"
dargeboten werden. Tatsächlich hat ja der National-sozialismus sonst dieses
Prinzip auch befolgt; und die von ihm für seine Zwecke montierten Photos
gehören zum klassischen Bestand realistisch lügender Reizmodelle.
Heute sind nun die obsoleten Modelle vom Streicher-Typ schon fast vollkommen
außer Kurs.* Daß Schablonen ihr Maximum an Wirkung nur dann erreichen,
wenn sie sich mit einem Maximum an Realismus auftakeln, ist als Produktionsprinzip
durchweg an-erkannt; und es gibt fast kein illustriertes Blatt, fast keinen
Film, gewiß keine Wochenschauen, in denen dieses Prinzip nicht befolgt
wäre. Nicht im Zeitalter des Surrealismus leben wir, sondern in dem des
Pseudo-Realismus; im Zeitalter der Verbrämungen, das sich als Zeitalter
der Enthüllungen verbrämt. Wo man lügt - und wo täte man
das nicht? - lügt man nicht mehr wie gedruckt, son-dern wie photographiert;
nein, nicht wie photographiert, sondern effektiv photographiert. Das Medium
der Photographie ist als solches derart glaubwürdig, derart "objektiv",
daß es mehr Unwahr-heit absorbieren, sich mehr Lügen leisten kann
als irgend ein an-deres Medium vor ihm. Wer also die Realität schablonenhaft
ma-chen will, tarnt, mit dem Mit_tel_der Photographie, seine Schablone_ realistisch.
Um das aber tun zu können, um die Wirklichkeit mit einem angeblichen Bilde
des Wirklichen abblenden zu können, braucht man doch wieder auch ein spezielles
Bild vom Wirklichen, ein überwirkliches, wenn man will: "surreales",
auf jeden Fall ein
Realismus - das Kostüm der Schablonen 167
blendendes, kurz: das Sensationsbild, das, obwohl unter Umstän-den
an sich wahr, eben doch deshalb idurch und durch unwahr ist,weil es abblendet
und zusammen mit anderen Sensationsbildern zujenem Gesamtbild der Welt beiträgt,
dem nichts in der Wirklich-keit entspricht. Das Sensationelle :wird daher gerade
dort, wo Scha-blonen hergestellt werden sollen, zum Inbegriff der Realität.
Dasmag merkwürdig klingen, dä man sich unter einer "Schablone"gewöhnlich
etwas Ödes vorstellt. Aber so einfach ist das nicht. DasSensationelle gehört
vielmehr zur Schablone wesentlich; und zwarnicht nur deshalb, weil es als deren
Deckung und Abblendungdient; sondern auch deshalb, weil es selbst dazu inkliniert,
Scha-blone zu werden; weil es nämlich nichts Stereotyperes gibt als dasangeblich
täglich Neue, und nichts, was dem super-mysteriösenMord von gestern
auf so ununterscheidbare Weise gliche wie dersuper-mysteriöse Mord von
heute. Wahrhaftig, würde ein Histo-riker in hundert Jahren versuchen, sich
aus der Blütenlese, die dieillustrierten Blätter als "Wirklichkeit
von heute" anbieten, einMosaik unserer heutigen Zeit zusammenzusetzen,
er würde nichtnur zu einem im allgemeinen absurden, nicht nur zu einem
vielzu haarsträubenden, sondern zugleich auch zu einem viel zu lang-weiligen
Ergebnis kommen. -
Aber obwohl, wie gesagt, die Schablonenfabrikanten ihren sen-sationellen Pseudo-Realismus
nur zu dem Zweck in Gang setzen, um die Tatsache, daß sie eine Schablonenwelt
herstellen wollen, zu verbergen, also um zu verhindern, daß der Kunde
Verdacht schöpfe, er werde mit Schablonen abgespeist, erwartet, ja verlangt
doch auch der bereits ganz bestimmte Typen von "Surrealität",
von schreien-der Wirklichkeit, also Schablonen. Was wenig verwunderlich ist,
da die Art der täglich gelieferten Stanzformen die Nachfrage des Kunden
eben bereits geprägt hat. Auch der verlangt also Sensation und Schablone,
und zwar immer beide zugleich, ja beide zugleich im selben Objekt. Was der Käufer
der illustrierten Zeitungen ver-langt, ist das gute alte Noch-nie-dß--ggwlelw,,
das Unerhörte von der Art, wie er es gestern und vo3gca Prn peh_ört
hat, und ,jene limitierteste,-sichYaus Mördern, Stars, "Untertassen"
und anderem planetarischem Geschirr zusammensetzende Allerwelts-Welt, die sich
die "halbe", die "weiße", die "bunte", die
Große" nennt, ob-
168 Die Welt als Phantom und Matrize
wohl ihr Ingrediens an Welt noch nicht einmal infinitesimal ist.
Wer immer versucht - und solche Versuche sterben ja glücklicher-weise niemals
aus - den numerus clausus dieser Themen und die-ser Präsentierungsart zu
durchbrechen, hat sich daher nicht nur auf den erbitterten Widerstand der Schablonenfabrikanten,
gegen deren Spielregeln er verstößt, gefaßt zu machen; sondern
auch auf den der Kunden selbst, deren Erwartungshorizont eben gleich-falls schon
erstarrt ist, und die alles, was aus dem Rahmen der als typisch gewohnten Ungewöhnlichkeiten
herausfällt, als Zumutung oder als unwahr empfinden oder es überhaupt
nicht mehr rezi-pieren: denn zumeist bleibt das Untypische völlig "ungegeben".
Und die Frage, welche Methode die Wahrheit einschlagen sollte, um mit der Lüge
zu konkurrieren, nämlich um auch geglaubt zu werden: ob sie sich, da sich
die Lügenwelt aus Wahrheiten zusam-mensetzt, als Lüge auftakeln dürfte
(wenn sie es könnte) - die ist bis heute nicht nur nicht beantwortet, sondern
auch nicht ausrei-chend gestellt. -
Aber selbst die Formel: man lüge nicht mehr wie gedruckt, son-dern wie
photographiert, nein nicht mehr wie photographiert, son-dern effektiv photographiert,
ist heute bereits überholt. Das Höchst-maß an Pseudo-Realismus
ist natürlich dem Fernseh-Phantom vorbehalten, da dieses ja seinen Konsumenten
einreden kann, keine Abbildung der Realität, sondern die Realität
selbst zu sein. Und wie könnte, denkt der Konsument gedankenlos, wie könnte
die Realität selbst unrealistisch sein? Wie könnte sie gegen sich
selbst zeugen? - Ein besseres Gerät hat die Lüge also noch niemals
be-sessen: nicht mehr mit Hilfe falscher Bilder lügt sie nun gegen die
Wirklichkeit, sondern mit deren eigener Hilfe.*
War früher die "pragmatische Gleichung", also die Identifizie-rung
von Reizmodell und Wirklichkeit, noch gewissen Reibungenund Zweifeln ausgesetzt
gewesen - denn ein Minimum an Skepsiskann ja jedes Bild als Bild im Beschauer
erzeugen- so funktioniertsie nun mit geradezu idealer Reibungslosigkeit. Das
Modell an-blickend, glaubt der Konsument, die Welt selbst zu sehen; auf dasModell
reagierend, auf die Welt selbst zu reagieren. Erbittert oderenthusiasmiert von
Modellphantomen, hält er sich für erbittert oderfür enthusiasmiert
vom Wirklichen; so daß er, wenn die Welt nun
Sendungen sind Übungsgeräte
wirklich an ihn herantritt - und als Übungsgeräte für
diesen Fall werden die Schablonen ja fabriziert-nichts anderes in dieser sieht,
als was die Schablonen ihn zu sehen gelehrt hatten; nichts anderes ihr gegenüber
fühlt, als was die Schablonen an Gefühlen in ihm vorgezeichnet hatten.
Die Schablonen sind also apriorische Bedin-gungs-Formen; aber nicht nur solche
der Anschauung; nicht nur solche des Verstandes; nicht nur solche des Gefühls;
sondern auch solche des Benehmens und Handelns - also Matrizen von einer Anwendungsbreite
und Leistungs-Universalität, wie sie selbst spe-kulativste Philosophen
niemals vorausgesehen hatten; zu allerletzt für das Zeitalter des Empirismus,
in dem wir doch angeblich leben.
Die einzige Mentalität, die mit dieser verglichen werden könnte, ist
die von "Primitiven", die ja (sofern die Voraussetzungen Fra-ters,
L6vy-Bruhls, Cassirers usw. zu Recht bestehen) in einem so endgültig eingeengten
und festgelegten Anschauungs- und Sitten-kodex lebten, daß sie, was ihnen
durch diesen nicht vorgegeben war, weder theoretisch noch praktisch "in
Betracht ziehen" konnten.
Natürlich darf die Rede von "apriorischen Bedingungs-Formen"
nicht wörtlich, also nicht im Sinne Kants, verstanden werden. Züge,
die weniger "angeboren" wären, als sie, die hergestellt und dem
Menschen eingeprägt werden, sind ja nicht denkbar. Aber, "apriorisch"
sind sie trotzdem, sofern sie als Gußformen, also als Bedingungen, dem
Erfahren, dem Fühlen und dem Benehmen vorausliegen und diese "condition",
also "konditionieren". Und da diese Bedingungen ja nicht nur darüber
präjudizieren, wie, sondern selbst darüber was und was nicht erfahren,
gefühlt usw. wird, ist ihre Kraft von außergewöhnlicher Stärke
und ihr Zu-ständigkeitsbereich von außergewöhnlicher Breite.
Wer durch sie geprägt ist, der ist nun für nichts anderes mehr bereit,
als für dasjenige, worauf ihn die Sendungen zu Hause vorbereitet haben.
Nur das sieht er, nur das denkt er, nur das fühlt er, nur das liebt er,
nur das tut er. In dieser Matrizen- und Vorbereitungsleistung besteht die Abzweckung
der Sendungen. Da aber, wie wir gesehen haben, die Matrizenformen nicht verraten
dürfen, daß sie Matrizen sind, müssen die Bedingungen in Form
von Dingen, die Matrizen als Weltstücke auftreten.
Diese letzte Feststellung ist nun aber für das Ganze unserer Un-
170 Die Welt als Phantom und Matrize
tersuchung von grundsätzlicher Wichtigkeit. Dies aus zwei
Grün-den:
1. Jene angebliche "ontologische Zweideutigkeit" der Sendun-gen, die
Phantomhaftigkeit, die uns anfangs beschäftigt hatte, ist damit nämlich
ihrer Rätselhaftigkeit entkleidet: Da der Matrizen-fabrikant unterschlagen
will, daß die Schablonen Schablonen, die Bedingungsformen Bedingungsformen
sind, bietet er sie als "Welt" und als "Dinge" an. Das heißt
aber: als Phantome. Denn Phantome sind ja nichts anderes als Formen, die als
Dinge auftreten. Die Phantomhaftigkeit der Sendungen entpuppt sich also als
ein ge-wünschter Effekt; und deren angeblich "ontologische Zweideutig-keit"
nur als die Erscheinungsform einer moralischen: eben einer Irreführung.
z. Jener Begriff von "Idealismus", den wir zu Beginn unserer Untersuchung
eingeführt hatten, erfährt durch unsere Überlegung eine notwendige
Ergänzung. Wie erinnerlich, hatten wir als "ide-alistisch" dort
jede possessive Attitüde der Welt gegenüber bezeich-net, jede Attitüde,
durch die die Welt deshalb als "nur meine Welt" erscheint, weil ich
sie mir effektiv aneigne. Aber es ist ein funda-mentaler Unterschied, ob ein
Eroberer (oder, wie bei Hegel: ein fressendes Tier) sie zu seiner macht; oder
ob sie zu meiner gemacht wird; und wie sie zu meiner gemacht wird. "Mein"
kann manches sein: selbst die eingebrannte Häftlingsnummer auf dem Arm
des Konzentrationärs. Wenn, wie es eben beschrieben wird, dem Mas-senmenschen
die Welt in Form einer Schablonen-Totalität geliefert wird, tritt zwar
an die Stelle von Welt eine Vorstellungs-Totalität, aber doch eine, die
"seine" nur deshalb ist, weil sie ihm aufgeprägt wird. "Meine
Vorstellung sei euch ll'elt", spricht der Wille dessen, der Matrizen herstellt.
So sprach Hitler. Ein Hitleranhänger, der behauptet hätte: "Die
Welt ist meine Vorstellung", wäre undenk-bar gewesen. Und zwar nicht
nur deshalb, weil er als Massenmensch seine Vorstellung eben für seine
Welt hielt, sondern weil ihm, was ihm als "Welt" galt, von einem Anderen
vorgestellt, ja ins Haus zugestellt wurde.*
§ 21
Die Prägung der Bedürfnisse.
Angebote - die Gebote von heute. - Die Waren dürsten,
und wir mit ihnen
Was man uns präsentiert, sind also vorgeprägte Objekte, deren Prätention es ist, zusammen "die Welt" zu sein; und deren Ab-zweckung darin besteht, uns nach ihrem Bilde zu prägen. Damit ist nun aber nicht behauptet, daß diese Prägung gewalttätig vor sich gehe; jedenfalls nicht, daß Gewalttätigkeit, wo solche am Werk ist, als solche spürbar oder auch nur als Druck erkennbar sein müsse. Zumeist ist uns der Prägungsdruck so wenig spürbar wie Tiefseefischen der Druck des auf ihnen lastenden ozeanischen Gewichtes. Je unbemerkter der Prägungsdruck sich vollzieht, desto gesicherter sein Erfolg. Am günstigsten wird es daher sein, wenn die prägende Matrize als gewünschte Matrize empfunden wird. Soll dieses Ziel erreicht werden, dann ist es also nötig, zuvor die Wün-sche selbst zu prägen. Zu den Standardisierungs-, ja zu den Pro-duktionsaufgaben von heute gehört demnach nicht nur die Standar-disierung der Produkte, sondern auch die der (nach den standardi-sierten Produkten dürstenden) Bedürfnisse. Weitgehend geschieht das freilich automatisch, nämlich durch die täglich gelieferten und konsumierten Produkte selbst: denn die Bedürfnisse richten sich (wie wir gleich sehen werden) nach dem täglich Angebotenen und Konsumierten. Aber doch nicht vollständig. Eine gewisse Kluft zwischen angebotenem Produkt und Bedürfnis bleibt stets offen; restlose Kongruenz der Nachfrage mit dem Angebot gibt es niemals. So daß, damit diese Kluft geschlossen werde, eine Hilfskraft mobili-siert werden muß. Und diese Hilfskraft ist die Moral. Freilich muß auch diese, wenn sie als Hilfskraft tauglich sein soll, vorgeprägt werden; und zwar so, daß als "unmoralisch", nämlich als nicht-konformistisch, derjenige gelte, der nicht dasjenige wünscht, was er erhalten soll; und so, daß der Einzelne durch die öffentliche Meinung (bzw. durch deren Sprachrohr: sein "eigenes" individu-elles Gewissen) gezwungen werde, dasjenige zu wünschen, was er erhalten soll. Und das ist heute der Fall. Die Maxime, der wir alle
180 Die Welt als Phantom und Matrize
duktion real sei - "real" im wirtschaftlichen Sinne
-, so lautet die Antwort: die Reproduktion, die reproduzierte Ware. Denn nur
dieser zuliebe existiert ja das Modell. Und zwar ist die Ware um so realer,
in je mehr Exemplaren sie sich verkaufen läßt; deren Modell ist wiederum
nur insofern real, als es auf Grund seiner Vorbildqualität die "Realisierung"
maximaler Verkäufe seiner Re-produktionen möglich macht. Gäbe
es eine ausgebildete Wirt-schafts-Ontologie, also eine Lehre vom Sein, wie dieses
aus der Perspektive heutiger Produktion, und heutigen Absatzes erscheint, so
würde deren erstes Axiom lauten: "Realität wird durch Repro-duktion
produziert; erst im Plural, erst als Serie, ist ,Sein'." -
x Und in seiner Kehrform: "Einmal ist keinmal; das nur Einmalige ,ist`
nicht; der Singular gehört noch zum Nichtsein."*
Das Axiom klingt widersinnig und ist tatsächlich schwer zu ver-stehen.
Und zwar deshalb, weil, was es als "seiend" anerkennt, we-der das
"Allgemeine" ist, noch das "Einzelne", sondern etwas Drit-tes:
die Serie; weil es also zu der klassischen Nominalismus-Realis-mus-Alternative,
die uns vertraut ist, quer steht. Aber das verhin-dert nicht, daß das
Axiom uns Heutigen, und gerade den Unphilo-sophischsten unter uns, tief in den
Knochen sitzt:
Wer Gelegenheit hatte, Reisende, namentlich solche aus höchst industrialisierten
Ländern, unterwegs, in Rom oder Florenz, zu beobachten, der wird bemerkt
haben, in welchem Grade es sie irri-tiert, Einmaligkeiten zu begegnen*; also
jenen großen histori-schen Gegenständen, die als einzige Exemplare
in der Serienwelt herumstehen. Tatsächlich tragen diese Reisenden auch
durchweg ein Mittel gegen diese Störung bei sich; eine Art von Spritze,
deren Applikation ihnen die sofortige Wiederherstellung ihrer See-lenruhe verbürgt;
genauer: ein Gerät, mit dessen Hilfe sie Ein-inaliges, wenn es sie durch
Schönheit oder Unklassifizierbarkeit zu stark irritieren sollte, sofort
zum "sujet" machen können, und das sie instand setzt, jeden allzu
bestimmten Artikel in einen "unbe-stimmten Artikel" zu verwandeln,
das heißt: in einen solchen, der im Reproduktions-Universum einen rechtmäßigen
Bestand als Re-produktion haben kanr - kurz: sie sind alle mit einem photogra-phischen
Apparat ausgerüstet. Und als Magier, die es noch nicht einmal nötig
haben, ihre Gegenstände zu berühren, durchziehen
Einmal ist keinmal 181
sie nun in Schwärmen die Welt, "pour corriger sa nature":
um den Defekt, den jedes Stück durch die Tatsache seiner Einzigkeit innerhalb
des Serien-Universums darstellt, zu beheben; um es in das Serien-Universum,
von dem es bis dahin ausgenommen ge-wesen war, durch Reproduktion aufzunehmen,
also um es photo-graphisch "aufzunehmen". Haben sie das knipsend getan,
dann sind sie beruhigt.
Dieses "Aufnehmen" bedeutet nun aber auch ein "bei sich Auf-nehmen".
Denn was diese Magier durch ihr Reproduzieren errei-chen, ist zugleich, daß
sie die Gegenstände nun "haben". Man er-gänze nicht: "nur
in effigie". Der Modus, in dem sie diese Gegen-stände nun "haben",
ist vielmehr gerade derjenige, in dem zu "haben" sie gewöhnt
sind. Nur weil sie die Gegenstände in effigie haben, "haben"
sie sie. Da ihnen ein anderer Aufenthalt als der zwischen effigies nicht mehr
bekannt ist - die Serienwaren ihrer Welt, zwischen, mit und von denen sie leben,
sind ja durchweg Reproduktionen, durchweg Nachbilder von Modellen - sind Nach-bilder
für sie eben das Wirkliche. So wenig sie dasjenige photogra-phieren, was
sie sehen - denn was sie sehen, das sehen sie nur, um es zu photographieren;
und was sie photographieren, das photogra-phieren sie nur, um es zu haben -
so wenig ist ihnen das, was sie photographieren, das "Wirkliche".
"Wirklich" ist für sie vielmehr die Aufnahme, das heißt:
die in das Serien-Universum aufgenom-menen und zu ihrem Eigentum gewordenen
Exemplare der Repro-duktions-Serie. Ontologisch ausgedrückt: Das "esse
= percipi" haben sie durch ein "esse = haberi" ersetzt.* "Wirklich"
ist für sie nicht eigentlich der in Venedig liegende Marcusplatz; sondern
derjenige, der in ihrem Photo-Album liegt, in Wuppertal, Shef-field oder Detroit.
Womit zugleich gesagt ist: Nicht dort zu sein, zählt für sie, sondern
allein, dort gewesen zu sein. Und das nicht nur deshalb, weil dort gewesen zu
sein, ihr heimisches Prestige hebt, sondern eben, weil nur Gewesenes einen sicheren
Besitz dar-stellt. Während nämlich Gegenwärtiges, auf Grund seiner
Flüch-tigkeit, nicht "gehabt" werden kann; ein unhaltbares, unreelles,
unrentables Gut bleibt, eben nicht bleibt, ist das Gewesene, da es als Bild
zum Dinge und damit zum Eigentum geworden ist, das allein Wirkliche. Ontologisch
formuliert: "Nur Gewesen-sein ist SEIN"
Befände sich unter diesen Magiern einer, der nich mittäte, sondern
sich im Klaren darüber wäre, was er täte, er würde sein
mit Knipsen verbrachtes Leben damit rechtfertigen:
Da ich jedes Gewesene in eine Reproduktion und damit in ein physisches Objekt
verwandelt habe;..das ich nach Hause tragen kann und sie nun immer weiter bei
mir haben kann, ist nichts in meinem Leben vergeudet, nichts vergeblich, nichts
unprofitable gewesen.
Jedes ist nun, weil es bleibt. Jedes ist nun, weil es Bild ist.
"Sein"bedeutet also: Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein
und Eigensein.
Im Grunde genommen ist es das Museumsprinzip das triumphiert,
als autobiographisches Prinzip,
jedem begegnet sein eigenes Leben in Form einer Bilderserie, als eine Art "autobiographische
Galerie"
alles Gewesene ist in die eine Ebene des verfügbaren und gegenwärtigen
Bildseins projiziert.
Nun ist meine Stellung dazu folgende:
Wenn es einen Weg gibt alles Sein in ein Gewesenes durch Bilder zu bringen -
muß auch der umgekehrte Weg möglich sein.
Alles Werdende kann in die Ebene des verfügbaren und gegenwärtigen
Bildseins gehoben werden. Es müsste sogar so das SEIN werden, um dem Sichtbaren
zugänglich zu sein.
Jedes Leben kann in Form einer Bilderserie als autogenetische Galerie geboren
werden.