Quellenangabe: J.W.von Goethe- Hamburger
Ausgabe
Bd13, Naturwissenschaftliche Schriften (dtv Dünndruck) s.21
Ein organisches Wesen ist so vielseitig an seinem Äußern,
in seinem Innern so mannigfaltig und unerschöpflich, daß man nicht
genug Standpunkte wählen kann es zu beschauen, nicht genug Organe an sich
selbst ausbilden kann, um es zu zergliedern, ohne es zu töten. Ich versuche
die Idee: Schön-heit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Na-turen
anzuwenden.
Die Glieder aller Geschöpfe sind so gebildet, daß sie ihres Daseins
genießen, dasselbe erhalten und fortpflanzen können, und in diesem
Sinn ist alles Lebendige vollkommen zunennen. Diesmal wende ich mich sogleich
zu den sogenann-ten vollkommenem Tieren.
Wenn die Gliedmaßen des Tiers dergestalt gebildet sind, daß dieses
Geschöpf nur auf eine sehr beschränkte Weise sein Dasein äußern
kann; so werden wir dieses Tier häßlich finden: denn durch die Beschränktheit
der organischen Natur auf Einen Zweck wird das Übergewicht eines und des
andern Glieds bewirkt, so daß dadurch der willkürliche Gebrauch der
übrigen Glieder gehindert werden muß.
Indem ich dieses Tier betrachte, wird meine Aufmerk-samkeit auf jene Teile gerichtet,
die ein Übergewicht über die übrigen haben, und das Geschöpf
kann, da es keine Harmonie hat, mir keinen harmonischen Eindruck geben. So wäre
der Maulwurf vollkommen aber häßlich, weil seine Ge-stalt ihm nur
wenige und beschränkte Handlungen erlaubt und das Übergewicht gewisser
Teile ihn ganz unförmlich macht.
Damit also ein Tier nur die notwendigen beschränkten Bedürfnisse ungehindert
befriedigen könne, muß es schon vollkommen organisiert sein; allein
wenn ihm neben der Befriedigung des Bedürfnisses noch so viel Kraft und
Fähig-keit bleibt, willkürliche gewissermaßen zwecklose Handlun-gen
zu unternehmen; so wird es uns auch äußerlich den Begriff von Schönheit
geben.
Wenn ich also sage dies Tier ist schön, so würde ich mich vergebens
bemühen, diese Behauptung durch irgendeine Proportion von Zahl oder Maß
beweisen zu wollen. Ich sage vielmehr nur so viel damit: an diesem Tiere stehen
die Glieder alle in einem solchen Verhältnis, daß keins das andere
an seiner Wirkung hindert, ja daß vielmehr durch ein vollkommenes Gleichgewicht
derselbigen Notwendigkeit und Bedürfnis versteckt, vor meinen Augen gänzlich
verborgen worden, so daß das Tier nur nach freier Willkür zu handeln
und zu wirken scheint. Man erinnere sich eines Pferdes, das man in Freiheit
seiner Glieder gebrauchen sehen.
Rücken wir nun zu dem Menschen herauf, so finden wir ihn zuletzt von den
Fesseln der Tierheit beinahe entbunden, seine Glieder in einer zarten Sub- und
Koordination, und mehr als die Glieder irgendeines andern Tieres dem Wollen
unterworfen, und nicht allein zu allen Arten von Verrichtungen, sondern auch
zum geistigen Ausdruck geschickt. Ich tue hier nur einen Blick auf die Gebärdensprache,
die bei wohlerzogenen Menschen unterdrückt wird, und die nach meiner Meinung
den Menschen so gut als die Wort-sprache über das Tier erhebt.
Um sich auf diesem Wege den Begriff eines schönen Menschen auszubilden,
müssen unzählige Verhältnisse in Betrachtung genommen werden,
und es ist freilich ein großer Weg zu machen bis der hohe Begriff von
Freiheit der menschlichen Vollkommenheit, auch im Sinnlichen, die Krone aufsetzen
kann.
Ich muß noch eins hierbei bemerken. Wir nennen ein Tier schön, wenn
es uns den Begriff gibt, daß es seine Glieder nach Willkür brauchen
könne, sobald es sie wirk-lich nach Willkür gebraucht, wird die Idee
des Schönen sogleich durch die Empfindung des Artigen, Angenehmen, Leichten,
Prächtigen pp. verschlungen. Man sieht also, daß bei der Schönheit
Ruhe mit Kraft, Untätigkeit mit Vermögen eigentlich in Anschlag komme.
Ist bei einem Körper oder bei einem Gliede desselben der Gedanke von Kraftäußerung
zu nahe mit dem Dasein ver-knüpft; so scheint der Genius des Schönen
uns sogleich zu entfliehen, daher bildeten die Alten selbst ihre Löwen
in dem höchsten Grade von Ruhe und Gleichgültigkeit, um unser Ge-fühl,
mit dem wir Schönheit umfassen, auch hier anzulocken.
Ich möchte also wohl sagen: Schön nennen wir ein voll-kommen organisiertes
Wesen, wenn wir uns bei seinem Anblicke denken können, daß ihm ein
mannigfaltiger freier Gebrauch aller seiner Glieder möglich sei, sobald
es wolle, das höchste Gefühl der Schönheit ist daher mit dem
Gefühl von Zutraun und Hoffnung ver-knüpft.
Mich sollte dünken, daß ein Versuch über die tierische und menschliche Gestalt auf diesem Wege schöne Ansichten gewähren und interessante Verhältnisse darstellen müsse.
Besonders würde, wie schon oben gedacht, der Begriff von Proportion, den wir immer nur durch Zahl und Maß auszudrücken glauben, dadurch in geistigern Formeln auf-gestellt werden, und es ist zu hoffen, daß diese geistigen Formeln zuletzt mit dem Verfahren der größten Künstler zusammentreffen, deren Werke uns übriggeblieben sind, und zugleich die schönen Naturprodukte umschließen werden, die sich von Zeit zu Zeit lebendig bei uns sehen lassen.
Höchst interessant wird alsdann die Betrachtung sein, wie
man Charaktere hervorbringen könne, ohne aus dem Kreise der Schönheit
zu gehen, wie man Beschränkung und Deter-mination aufs Besondere, ohne
der Freiheit zu schaden, könne erscheinen lassen.
Eine solche Behandlung müßte, um sich von andern zu unterscheiden
und als Vorarbeit für künftige Freunde der Natur und Kunst einen wahren
Nutzen zu haben, einen anatomischen physiologischen Grund haben; allein zur
Darstellung eines so mannigfaltigen und so wunderbaren Ganzen hält es sehr
schwer sich die Möglichkeit der Form eines angemessenen Vortrags zu denken.
ERFAHRUNG UND WISSENSCHAFT
Die Phänomene, die wir andern auch wohl Facta nennen, sind
gewiß und bestimmt ihrer Natur nach, hingegen oft unbestimmt und schwankend,
insofern sie erscheinen. Der Naturforscher sucht das Bestimmte der Erscheinungen
zu fassen und festzuhalten, er ist in einzelnen Fällen aufmerk-sam nicht
allein, wie die Phänomene erscheinen, sondern auch, wie sie erscheinen
sollten. Es gibt, wie ich besonders in dem Fache das ich bearbeite oft bemerken
kann, viele
empirische Brüche, die man wegwerfen maß um ein reines konstantes
Phänomen zu erhalten; allein sobald ich mir das erlaube, so stelle ich
schon eine Art von Ideal auf.
Es ist aber dennoch ein großer Unterschied, ob man, wie Theoristen tun,
einer Hypothese zulieb ganze Zahlen in die Brüche schlägt, oder ob
man einen empirischen Bruch der Idee des reinen Phänomens aufopfert.
Denn da der Beobachter nie das reine Phänomen mit Augen sieht, sondern
vieles von seiner Geistesstimmung, von der Stimmung des Organs im Augenblick,
von Licht, Luft, Witterung, Körpern, Behandlung und tausend andern Umständen
abhängt; so ist ein Meer auszutrinken, wenn man sich an Individualität
des Phänomens halten und diese beobachten, messen, wägen und beschreiben
will.
Bei meiner Naturbeobachtung und Betrachtung bin ich folgender Methode, so viel
als möglich war, besonders in den letzten Zeiten treu geblieben.
Wenn ich die Konstanz und Konsequenz der Phänomene, bis auf einen gewissen
Grad, erfahren habe, so ziehe ich daraus ein empirisches Gesetz und schreibe
es den künftigen Erscheinungen vor. Passen Gesetz und Erscheinungen in
der Folge völlig, so habe ich gewonnen, passen sie nicht ganz, so werde
ich auf die Umstände der einzelnen Fälle aufmerksam gemacht und genötigt
neue Bedingungen zu suchen, unter denen ich die widersprechenden Versuche reiner
darstellen kann; zeigt sich aber manchmal, unter gleichen Umständen, ein
Fall, der meinem Gesetze wider-spricht, so sehe ich, daß ich mit der ganzen
Arbeit vor-rucken und mir einen höhern Standpunkt suchen maß.
Dieses wäre also, nach meiner Erfahrung, derjenige Punkt, wo der menschliche
Geist sich den Gegenständen in ihrer Allgemeinheit am meisten nähern,
sie zu sich heranbringen, sich mit ihnen (wie wir es sonst in der gemeinen Empirie
tun) auf eine rationelle Weise gleichsam amalgamieren kann.
Was wir also von unserer Arbeit vorzuweisen hätten, wäre:
1. Das empirische Phänomen,
das jeder Mensch in der Natur gewahr wird, und das nachher
2. zum wissenschaftlichen Phänomen
durch Versuche erhoben wird, indem man es unter andern Umständen und Bedingungen,
als es zuerst bekannt gewesen, und in einer mehr oder weniger glücklichen
Folge darstellt.
3. Das reine Phänomen
steht nun zuletzt als Resultat aller Erfahrungen und Versuche da. Es kann niemals
isoliert sein, sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen.
Um es darzustellen bestimmt der menschliche Geist das empirisch Wankende, schließt
das Zufällige aus, sondert das Unreine, entwickelt das Verworrene, ja entdeckt
das Unbekannte.
Hier wäre, wenn der Mensch sich zu bescheiden wüßte, vielleicht
das letzte Ziel unserer Kräfte. Denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt,
sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen; es wird
ihre konsequente Folge, ihr ewiges Wiederkehren unter tausenderlei Umstän-den,
ihre Einerleiheit und Veränderlichkeit angeschaut und angenommen, ihre
Bestimmtheit anerkannt und durch den menschlichen Geist wieder bestimmt.
Eigentlich möchte diese Arbeit nicht spekulativ genannt werden, denn es
sind am Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich selbst
rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer
höhern Sphäre zu üben wagt.
W. den 15ten Januar 1798
.
Einwirkungen der neueren Philosophie
Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ, nur die fortdauernde
Gegenwirkung, womit ich der eindrin- ss geraden Welt zu widerstehen und sie
mir anzueignen genötigt war, mußte mich auf eine Methode führen,
durch die ich die Meinungen der Philosophen, eben auch als wären es Gegen-stände,
zu fassen und mich daran auszubilden suchte. Bruckers Geschichte der Philosophie
liebte ich in meiner Jugend fleißig zu lesen, es ging mir aber dabei wie
einem,s der sein ganzes Leben den Sternhimmel über seinem Haupte drehen
sieht, manches auffallende Sternbild unterscheidet, ohne etwas von der Astronomie
zu verstehen, den großen Bären kennt, nicht aber den Polarstern.
Über Kunst und ihre theoretischen Forderungen hatte ich mit Moritz, in
Rom, viel verhandelt; eine kleine Druck-schrift zeugt noch heute von unserer
damaligen fruchtbaren Dunkelheit. Fernerhin bei Darstellung des Versuchs der
Pflanzen-Metamorphose mußte sich eine naturgemäße Me-thode
entwickeln; denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren
vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren
ließ, die Wege und Mittel anerkennen wie sieden eingehülltesten Zustand
zur Vollendung nach und nach zu befördern weiß. Bei physischen Untersuchungen
drängte sich mir die Überzeugung auf,- daß, bei aller Betrachtung
der Gegenstände, die höchste Pflicht sei, jede Bedingung, unter welcher
ein Phänomen erscheint, genau aufzusuchen und nach möglichster Voll-ständigkeit
der Phänomene zu trachten; weil sie doch zuletzt sich aneinander zu reihen,
oder vielmehr übereinanderzu- greifen genötigt werden, und vor dem
Anschauen des For-schers auch eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamt-leben
manifestieren müssen. Indes war dieser Zustand immerfort nur dämmernd,
nirgends fand ich Aufklärung nach meinem Sinne: denn am Ende kann doch
nur ein jeders- in seinem eignen Sinne aufgeklärt werden.
Kants Kritik der reinen Vernunft war schon längst erschienen, sie lag aber
völlig außerhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem Gespräch
darüber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß
die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt
zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und
wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat
ich es mit unbewußter Naivetät und glaubte wirklich, ich sähe
meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam, mochte
ich mich gern auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre
macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten:
wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung s angehe, so entspringe
sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Die Erkenntnisse a priori
ließ ich mir auch gefallen, so wie die synthetischen Urteile a priori:
denn hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobach-tend, synthetisch,
und dann wieder analytisch verfahren, die Systole und Diastole des menschlichen
Geistes war mir, wie ein zweites Atemholen, niemals getrennt, immer pulsierend.
Für alles dieses jedoch hatte ich keine Worte, noch weniger Phrasen, nun
aber schien zum erstenmal eine Theorie mich anzulächlen. Der Eingang war
es, der mir gefiel, ins Labyrinth selbst konnt' ich mich nicht wagen: bald hinderte
mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand und ich fühlte mich nirgend
gebessert.
Unglücklicherweise war Herder zwar ein Schüler, doch ein Gegner Kants,
und nun befand ich mich noch schlimmer, mit Herdern konnt' ich nicht übereinstimmen,
Kanten aber auch nicht folgen. Indessen fuhr ich fort der Bildung und Umbildung
organischer Naturen ernstlich nachzuforschen, wobei mir die Methode, womit ich
die Pflanzen behandelt, zuverlässig als Wegweiser diente. Mir entging nicht,
die Natur beobachte stets analytisches Verfahren, eine Entwick-lung aus einem
lebendigen, geheimnisvollen Ganzen, und dann schien sie wieder synthetisch zu
handeln, indem ja völlig fremdscheinende Verhältnisse einander angenähert
und sie zusammen in Eins verknüpft wurden. Aber- und abermals kehrte ich
daher zu der kantischen Lehre zurück, einzelne Kapitel glaubt' ich vor
andern zu verstehen und gewann gar manches zu meinem Hausgebrauch.
Nun aber kam die Kritik der Urteilskraft mir zuhan-den und dieser bin ich eine
höchst frohe Lebensepoche ss schuldig. Hier sah ich meine disparatesten
Beschäftigungen nebeneinandergestellt, Kunst- und Naturerzeugnisse eins
behandelt wie das andere, ästhetische und teleologische Urteilskraft erleuchteten
sich wechselsweise.
Wenn auch meiner Vorstellungsart nicht eben immer dem Verfasser sich zu fügen
möglich werden konnte, wenn ich hie und da etwas zu vermissen schien, so
waren doch die großen Hauptgedanken des Werks meinem bisherigen Schaffen,
Tun und Denken ganz analog; das innere Leben der Kunst so wie der Natur, ihr
beiderseitiges Wirken von innen heraus war im Buche deutlich ausgesprochen.
Die Erzeug-nisse dieser zwei unendlichen Welten sollten um ihrer selbst willen
da sein und, was neben einander stand, wohl für einander, aber nicht absichtlich
wegen einander.
Meine Abneigung gegen die Endursachen war nun gere-gelt und gerechtfertigt;
ich konnte deutlich Zweck und Wirkung unterscheiden, ich begriff auch, warum
der Men-schenverstand beides oft verwechselt. Mich freute, dass Dichtkunst und
vergleichende Naturkunde so nah mitein-ander verwandt seien, indem beide sich
derselben Urteils-kraft unterwerfen. Leidenschaftlich angeregt ging ich auf
meinen Wegen nur desto rascher fort, weil ich selbst nicht wußte, wohin
sie führten, und für das was und wie ich mir's zugeeignet hatte bei
den Kantianern wenig Anklang fand. Denn ich sprach nur aus, was in mir aufgeregt
war, nicht aber was ich gelesen hatte. Auf mich selbst zurückgewiesen studierte
ich das Buch immer hin und wider. Noch erfreuen mich in dem alten Exemplar die
Stellen, die ich damals anstrich, so wie dergleichen in der Kritik der Vernunft,
in welche tiefer einzudringen mir auch zu gelingen schien: denn beide Werke
aus einem Geist entsprungen deuten immer eins aufs andere. Nicht eben so gelang
es mir, mich den Kantischen anzunähern; sie hörten mich wohl, konnten
so mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein. Mehr als einmal
begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Verwunderung
zugestand: es sei freilich ein Analogon Kantischer Vorstellungsart, aber ein
seltsames.
Wie wunderlich es denn auch damit gewesen sei, trat erst hervor, als mein Verhältnis
zu Schillern sich belebte. Unsere Gespräche waren durchaus produktiv oder
theoretisch, gewöhnlich beides zugleich: er predigte das Evangelium der
Freiheit, ich wollte die Rechte der Natur nicht verkürzt wissen. Aus freundschaftlicher
Neigung gegen mich, vielleicht mehr als aus eigner Überzeugung, behandelte
er in den ästhetischen Briefen die gute Mutter nicht mit jenen harten Ausdrücken,
die mir den Aufsatz über Anmut und W ü rd e so verhaßt gemacht
hatten. Weil ich aber, von meiner Seite hartnäckig und eigensinnig, die
Vorzüge der grie-chischen Dichtungsart, der darauf gegründeten und
von dort herkömmlichen Poesie nicht allein hervorhob, sondern sogar ausschließlich
diese Weise für die einzig rechte und wünschenswerte gelten ließ;
so ward er zu schärferem Nach-denken genötigt, und ebendiesem Konflikt
verdanken wir die Aufsätze über naive und sentimentale Poesie. Beide
Dichtungsweisen sollten sich bequemen einander gegenüberstehend sich wechselsweise
gleichen Rang zu ver-gönnen.
Er legte hierdurch den ersten Grund zur ganzen neuen u Ästhetik: denn hellenisch
und romantisch und was sonst noch für Synonymen mochten aufgefunden werden,
lassen sich alle dorthin zurückführen, wo vom Übergewicht reeller
oder ideeller Behandlung zuerst die Rede war.
Und so gewöhnt' ich mich nach und nach an eine Sprache, _~ die mir völlig
fremd gewesen und in die ich mich um desto leichter finden konnte, als ich durch
die höhere Vorstellung von Kunst und Wissenschaft, welche sie begünstigte,
mir selbst vornehmer und reicher dünken mochte, da wir andern vorher uns
von den Popular-Philosophen und von einer andern Art Philosophen, der ich keinen
Namen zu geben weiß, gar unwürdig maßten behandeln lassen.
Weitere Fortschritte verdank' ich besonders Nietham-mern, der mit freundlichster
Beharrlichkeit mir die Haupt-rätsel zu entsiegeln, die einzelnen Begriffe
und Ausdrücke zu 3-entwickeln und zu erklären trachtete. Was ich gleichzeitig
und späterhin Fichten, Schellingen, Hegeln, den Gebrüdern von Humboldt
und Schlegel schuldig geworden, möchte künftig dankbar zu entwickeln
sein, wenn mir gegönnt wäre jene für mich so bedeutende Epoche,
das Is letzte Zehent des vergangenen Jahrhunderts, von meinem Standpunkte aus,
wo nicht darzustellen, doch anzudeuten, zu entwerfen.
ALLGEMEINE NATURWISSENSCHAFT
ANSCHAUENDE URTEILSKRAFT
Als ich die Kantische Lehre wo nicht zu durchdringen doch möglichst
zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre
schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken
bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte,
mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte frei-lich bemerkt haben, wie anmaßend
und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen
aus-gerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen,
eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheften
trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende
diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann
aber, nachdem er uns genugsam in dieEnge getrieben, ja zurVerzweiflung gebracht,
entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt
uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen
zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:
"Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der
unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung
eines Gan-zen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen
zu den Teilen. - Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein
solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir
in der Dagegenhaltung unseres dis-kursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes
(intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit
auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen
Widerspruch enthalte."
Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Ver-stand zu deuten,
allein wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit
uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen;
so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir
uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme
an ihren Produktionenwürdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt
und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war
es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen,
so konnte mich nunmehr nichts weiter ver-hindern das Abenteuer der Vernunft,
wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.
BEDENKEN UND ERGEBUNG
Wir können bei Betrachtung des Weltgebäudes,
in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit, uns der Vorstellung
nicht erwehren, daß dem Ganzen eine Idee zum Grund liege, wornach Gott
in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, schaffen und wirken
möge. Anschauung, Betrachtung, Nachdenken führen uns näher an
jene Geheimnisse. Wir erdreisten uns und wagen auch Ideen, wir bescheiden uns
und bilden Begriffe, die analog jenen Uranfängen sein möchten.
Hier treffen wir nun auf die eigene Schwierigkeit, die nicht immer klar ins
Bewußtsein tritt, daß zwischen Idee und Erfahrung eine gewisse Kluft
befestigt scheint, die zu über-schreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich
bemüht. Dem- ohngeachtet bleibt unser ewiges Bestreben diesen Hiatus mit
Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, Wahn und, wenn wir
sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden.
Endlich finden wir, bei redlich fortgesetzten Bemühungen, daß der
Philosoph wohl möchte recht haben, welcher be-hauptet, daß keine
Idee der Erfahrung völlig kongruiere, aber wohl zugibt, daß Idee
und Erfahrung analog sein können, ja müssen.
Die Schwierigkeit Idee und Erfahrung miteinander zu verbinden erscheint sehr
hinderlich bei aller Naturforschung
die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Natur-forschung ist in Raum
und Zeit beschränkt, daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innigst
verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine
Naturwirkung, die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich
denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen. Der Verstand kann
nicht vereinigt denken, was die Sinnlichkeit ihm gesondert überlieferte,
und so bleibt der Widerstand zwischen Aufgefasstem und Ideiertem immerfort aufgelöst.
Deshalb wir uns denn billig zu einiger Befriedigung in die Sphäre der Dichtkunst
flüchten und ein altes Liedchen mit einiger Abwechslung erneuern.
So schauet mit bescheidnem Blick
Der ewigen Weberin Meisterstück,
Wie ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein hinüber herüber schießen,
Die Fäden sich begegnend fließen,
Ein Schlag tausen Verbindungen schlägt.
Das hat sich nicht zusammengebettelt,
Sie hats von Ewigkeit angezettelt;
Damit der ewige Meistermann
Getrost den Einschlag werfen kann.