Johann Wolfgang von Goethe
ZUR NATURWISSENSCHAFT
IM ALLGEMEINEN

Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe Bd 13
Naturwissenschaftliche Schriften s-7

STUDIE NACH SPINOZA und
DER VERSUCH ALS VERMITTLER

Der Begriff vom Dasein und derVollkommenheit ist ein und ebenderselbe; wenn wir diesen Begriff so weit verfolgen als s es uns möglich ist, so sagen wir, daß wir uns das Unendliche denken.
Das Unendliche aber oder die vollständige Existenz kann von uns nicht gedacht werden.
Wir können nur Dinge denken, die entweder beschränkt sind, oder die sich unsre Seele beschränkt. Wir haben also insofern einen Begriff vom Unendlichen, als wir uns denken können, daß es eine vollständigeExistenz gebe, welche außer der Fassungskraft eines beschränkten Geistes ist.
Man kann nicht sagen, daß das Unendliche Teile habe.
Alle beschränkte Existenzen sind im Unendlichen, sind aber keine Teile des Unendlichen, sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit.
Wir können uns nicht denken, daß etwas Beschränktes durch sich selbst existiere, und doch existiert alles wirklich durch sich selbst, ob gleich die Zustände so verkettet sind, daß einer aus den andern sich entwickeln muß, und es also scheint, daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde, welches aber nicht ist, sondern ein lebendiges Wesen gibt dem andern Anlaß zu sein und nötigt es in einem bestimmten Zustand zu existieren.
Jedes existierende Ding hat also sein Dasein in sich, und so auch die Übereinstimmung, nach der es existiert.
Das Messen eines Dings ist eine grobe Handlung, die auf lebendige Körper nicht anders als höchst unvollkommen -angewendet werden kann.
Ein lebendig existierendes Ding kann durch nichts gemes-sen werden, was außer ihm ist, sondern wenn es ja geschehen sollte, müßte es den Maßstab selbst dazu hergeben; dieser aber ist höchst geistig und kann durch die Sinne nicht gefunden werden; schon beim Zirkel läßt sich das Maß des Dia-meters nicht auf die Peripherie anwenden. So hat man den Menschen mechanisch messen wollen, die Maler haben den Kopf als den vornehmsten Teil zu der Einheit des Maßes genommen, es läßt sich aber doch dasselbe nicht ohne sehr kleine und unaussprechliche Brüche auf die übrigen Glieder anwenden.
In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nen-nen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden, und so nimmt, wie wir oben gesagt haben, ein eingeschränktes lebendiges Wesen teil an der Unendlichkeit oder vielmehr es hat etwas Unendliches in sich, wenn wir nicht lieber sagen wollen, daß wir den Begriff der Existenz und der Vollkommenheit des ein-geschränktesten lebendigen Wesens nicht ganz fassen kön-nen, und es also ebenso wie das ungeheure Ganze, in dem alle Existenzen begriffen sind, für unendlich erklären müssen.
Der Dinge, die wir gewahr werden, ist eine ungeheure Menge, die Verhältnisse derselben, die unsre Seele ergreifen kann, sind äußerst mannigfaltig. Seelen, die eine innre Kraft haben sich auszubreiten, fangen an zu ordnen um sich die Erkenntnis zu erleichtern, fangen an zu fügen und zu verbinden um zum Genuß zu gelangen.
Wir müssen also alle Existenz und Vollkommenheit in unsre Seele dergestalt beschränken, daß sie unsrer Natur und unsrer Art zu denken und zu empfinden angemessen werden; dann sagen wir erst, daß wir eine Sache begreifen oder sie genießen.
Wird die Seele ein Verhältnis gleichsam im Keime gewahr, dessen Harmonie, wenn sie ganz entwickelt wäre, sie nicht ganz auf einmal überschauen oder empfinden könnte, so nennen wir diesen Eindruck erhaben, und es ist der herrlichste, der einer menschlichen Seele zuteil werden kann.
Wenn wir ein Verhältnis erblicken, welches in seiner ganzen Entfaltung zu überschauen oder zu ergreifen das Maß unsrer Seele eben hinreicht, dann nennen wir den Eindruck groß.

Wir haben oben gesagt, daß alle lebendig existierende Dinge ihr Verhältnis in sich haben, den Eindruck also, den sie sowohl einzeln als in Verbindung mit andern auf uns machen, wenn er nur aus ihrem vollständigen Dasein ent-springt, nennen wir wahr, und wenn dieses Dasein teils auf s eine solche Weise beschränkt ist, daß wir es leicht fassen können, und in einem solchen Verhältnis zu unsrer Natur stehet, daß wir es gern ergreifen mögen, nennen wir den Gegenstand schön.
Ein Gleiches geschieht, wenn sich Menschen nach ihrer Fähigkeit ein Ganzes, es sei so reich oder arm als es wolle, von dem Zusammenhange der Dinge gebildet und nunmehr den Kreis zugeschlossen haben. Sie werden dasjenige, was sie am bequemsten denken, worin sie einen Genuß finden können, für das Gewisseste und Sicherste halten, ja man wird meistenteils bemerken, daß sie andere, welche sich nicht so leicht beruhigen und mehr Verhältnisse göttlicher und menschlicher Dinge aufzusuchen und zu erkennen streben, mit einem zufriedenen Mitleid ansehen und bei jeder Gele-genheit bescheiden trotzig merken lassen, daß sie im Wahren ~ eine Sicherheit gefunden, welche über allen Beweis und Verstand erhaben sei. Sie können nicht genug ihre innere beneidenswerte Ruhe und Freude rühmen und diese Glück-seligkeit einem jeden als das letzte Ziel andeuten. Da sie aber weder klar zu entdecken imstande sind, auf welchem Weg sie zu dieser Überzeugung gelangen, noch was eigent-lich der Grund derselbigen sei, sondern bloß von Gewißheit als Gewißheit sprechen, so bleibt auch dem Lehrbegierigen wenig Trost bei ihnen, indem er immer hören muß, das Gemüt müsse immer einfältiger und einfältiger werden, sich nur auf einen Punkt hinrichten, sich aller mannigfaltigen verwirrenden Verhältnisse entschlagen, und nur alsdenn könne man aber auch um desto sicherer in einem Zustande sein Glück finden, der ein freiwilliges Geschenk und eine besondere Gabe Gottes sei.
Nun möchten wir zwar nach unsrer Art zu denken diese Beschränkung keine Gabe nennen, weil ein Mangel nicht als eine Gabe angesehen werden kann, wohl aber möchten wir es als eine Gnade der Natur ansehen, daß sie, da der Mensch nur meist zu unvollständigen Begriffen zu gelangen imstande ist, sie ihn doch mit einer solchen Zufriedenheit seiner Enge versorgt hat.

DER VERSUCH
ALS VERMITTLER VON OBJEKT UND SUBJEKT

Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder ab-stoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natür-liche Art die Sachen anzusehen und zu beurteilen scheint so leicht zu sein als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern.
Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, die durch den Trieb nach Kenntnis angefeuert die Gegen-stände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten streben, von einer Seite ver-lieren sie den Maßstab der ihnen zu Hülfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in Bezug auf sich betrachteten.Ebenden Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens; diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt. So soll den echten Botaniker weder die Schön-heit noch die Nutzbarkeit einer Pflanze rühren; er soll ihre Bildung, ihre Verwandtschaft mit dem übrigen Pflanzen-reiche untersuchen; und wie sie alle von der Sonne hervor-gelockt und beschienen werden, so soll er mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen, und den Maßstab zu dieser Erkenntnis, die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen die er beobachtet.
Wie schwer diese Entäußerung dem Menschen sei, lehrt ss uns die Geschichte der Wissenschaften. Wie er auf diese Art zu Hypothesen, Theorien, Systemen und was es sonst für Vorstellungsarten geben mag, wodurch wir das Unendliche zu begreifen suchen, gerät und geraten muß, wird uns in der zweiten Abteilung dieses kleinen Aufsatzes beschäf-tigen. Den ersten Teil desselben widme ich der Betrachtung, wie der Mensch verfährt, wenn er die Kräfte der Natur zu erkennen sich bestrebt. Die Geschichte der Physik, die ich s gegenwärtig genauer zu studieren Ursache habe, gibt mir oft Gelegenheit hierüber zu denken, und so entspringt dieser kleine Aufsatz, in dem ich mir im allgemeinen zu vergegen-wärtigen strebe, auf welche Weise vorzügliche Männer der Naturlehre genutzt und geschadet haben. Sobald wir einen =o Gegenstand in Beziehung auf sich selbst und in Verhältnis mit andern betrachten, und denselben nicht unmittelbar entweder begehren oder verabscheuen: so werden wir mit einer ruhigen Aufmerksamkeit uns bald von ihm, seinen Teilen, seinen Verhältnissen einen ziemlich deutlichen =s Begriff machen können. Je weiter wir diese Betrachtungen fortsetzen, je mehr wir Gegenstände untereinander ver-knüpfen, desto mehr üben wir die Beobachtungsgabe die in uns ist. Wissen wir in Handlungen diese Erkenntnisse auf uns zu beziehen, so verdienen wir klug genannt zu werden. 20 Für einen jeden wohlorganisierten Menschen, der entweder von Natur mäßig ist, oder durch die Umstände mäßig ein-geschränkt wird, ist die Klugheit keine schwere Sache: denn das Leben weist uns bei jedem Schritte zurecht. Allein wenn der Beobachter ebendiese scharfe' Urteilskraft zur Prüfung geheimer Naturverhältnisse anwenden, wenn er in einer Welt, in der er gleichsam allein ist, auf seine eigenen Tritte und Schritte achtgeben, sich vor jeder Übereilung hüten, seinen Zweck stets im Auge haben soll, ohne doch selbst auf dem Wege irgendeinen nützlichen oder schäd-lichen Beistand unbemerkt vorbeizulassen, wenn er auch da, wo er von niemand so leicht kontrolliert werden kann, sein eigner strengster Beobachter sein und bei seinen eifrigsten Bemühungen immer gegen sich selbst mißtrauisch sein soll: so sieht wohl jeder, wie streng diese Forderungen sind und 3s wie wenig man hoffen kann sie ganz erfüllt zu sehen, man mag sie nun an andere oder an sich machen. Doch müssen uns diese Schwierigkeiten, ja man darf wohl sagen die hypothetische Unmöglichkeit nicht abhalten das Möglichste zu tun, und wir werden wenigstens am weitsten kommen, wenn wir uns die Mittel im allgemeinen zu vergegenwärtigen suchen, wodurch vorzügliche Menschen die Wissenschaften zu erweitern gewußt haben, wenn wir die Abwege genau bezeichnen, auf welchen sie sich verirrt, und auf welchen ihnen manchmal Jahrhunderte eine große Anzahl von Schü-lern gefolgt, bis spätere Erfahrungen erst wieder den Beob-achter auf den rechten Weg eingeleitet.
Daß die Erfahrung, wie in allem, was der Mensch unter-nimmt, so auch in der Naturlehre, von der ich gegenwärtig vorzüglich spreche, den größten Einfluß habe und haben solle, wird niemand leugnen, so wenig man den Seelen-kräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, zusam-mengenommen, geordnet und ausgebildet werden, ihre hohe
und gleichsam schöpferisch unabhängige Kraft nicht ab-sprechen wird. Allein wie diese Erfahrungen zu machen und wie sie zu nutzen, wie unsere Kräfte auszubilden und zu brauchen, das kann weder so allgemein bekannt noch anerkannt sein.
Sobald scharfsinnige Menschen, und deren gibt es in einem mäßigen Gebrauche des Wortes viel mehr als man denkt, auf Gegenstände aufmerksam gemacht werden: so findet man sie zu Beobachtungen so geneigt als geschickt. Ich habe dieses oft bemerken können, seitdem ich die Lehre des Lichts und der Farben mit Eifer behandele und, wie es zu geschehen pflegt, mich auch Personen, denen solche Betrachtungen sonst fremd sind, von dem, was mich ebenso sehr interessiert, unterhalten. Sobald ihre Aufmerksamkeit nur rege war, bemerkten sie Phänomene, die ich teils nicht
gekannt, teils übersehen hatte, und berichtigten dadurch gar oft eine zu voreilig gefaßte Idee, ja gaben mir Anlaß schnellere Schritte zu tun und aus der Einschränkung her-auszutreten, in welcher uns eine mühsame Untersuchung oft gefangenhält.
Es gilt also auch hier was bei so vielen andern mensch-lichen Unternehmungen gilt, daß das Interesse Mehrerer auf Einen Punkt gerichtet etwas Vorzügliches hervorzu-bringen imstande ist. Hier wird es offenbar, daß der Neid, welcher andere so gern von der Ehre einer Entdeckung aus schließen möchte, daß die unmäßige Begierde, etwas Ent-decktes nur nach seiner Art zu behandeln und auszuarbeiten, dem Forscher selbst das größte Hindernis sind.
Ich habe mich bisher bei der Methode mit Mehreren zu arbeiten zu wohl befunden, als daß ich nicht solche fort- s setzen sollte. Ich weiß genau, wem ich dieses und jenes auf meinem Wege schuldig geworden, und es soll mir eine Freude sein, es künftig öffentlich bekanntzumachen.
Sind uns nun bloß natürliche aufmerksame Menschen so viel zu nützen imstande, wie allgemeiner muß der Nutzen sein, wenn unterrichtete Menschen einander in die Hände arbeiten. Schon ist eine Wissenschaft an und vor sich selbst eine so große Masse, daß sie viele Menschen trägt, wenn sie gleich kein Mensch tragen kann. Es läßt sich bemerken, daß die Kenntnisse, gleichsam wie ein eingeschlossenes aber lebendiges Wasser, sich nach und nach zu einem gewissen Niveau erheben, daß die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch die Menschen als durch die Zeit gemacht worden, wie denn eben sehr wichtige Dinge zu gleicher Zeit von zweien oder wohl gar mehr geübtern Denkern gemacht worden. Wenn also wir in jenem ersten Fall der Gesellschaft und den Freunden so vieles schuldig werden, so werden wir es in diesem der Welt und dem Jahrhundert, und wir können in beiden Fällen nicht genug anerkennen, wie nötig Mitteilung, Beihülfe, Erinnerung und Widerspruch sei, um uns auf dem rechten Wege zu erhalten und vorwärts zu bringen.
Man hat daher in wissenschaftlichen Dingen gerade um-gekehrt zu verfahren, wie man es bei Kunstwerken zu tun hat. Denn ein Künstler tut wohl, sein Kunstwerk nicht öffentlich sehen zu lassen, bis er es vollendet hat, weil nicht leicht jemand raten noch Beistand tun kann; ist es hingegen vollendet, so hat er alsdenn den Tadel oder das Lob zu überlegen und zu beherzigen, solches mit seiner Erfahrung zu vereinigen und sich dadurch zu einem neuen Werke auszubilden und vorzubereiten. In wissenschaftlichen Din-gen hingegen ist es schon nützlich, jede einzelne Erfahrung, ja Vermutung öffentlich mitzuteilen, ja es ist höchst rät-lich, ein wissenschaftliches Gebäude nicht eher aufzuführen, bis der Plan dazu und die Materialien allgemein bekannt, beurteilt und ausgewählt sind.
Ich wende mich nun zu einem Punkte, der alle Aufmerk-samkeit verdient, und zwar zu der Methode, wie man am vorteilhaftesten und sichersten zu Werke geht.
Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene, die teils zufällig, teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch.
Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darinnen, daß er, er sei nun einfach oder zusammengesetzt, unter gewissen Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erfor-derlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, so oft sich die bedingten Umstände vereini-gen lassen. Wir bewundern mit Recht den menschlichen Verstand, wenn wir auch nur obenhin die Kombinationen ansehen, die er zu diesem Endzwecke gemacht hat, und die Maschinen betrachten, die dazu erfunden worden sind und man darf wohl sagen täglich erfunden werden.
So schätzbar aber auch ein jeder Versuch einzeln betrach-tet sein mag, so erhält er doch nur seinen Wert durch Ver-einigung und Verbindung mit andern. Aber eben zwei Versuche, die miteinander einige Ähnlichkeit haben, zu vereinigen und zu verbinden, gehört mehr Strenge und Aufmerksamkeit, als selbst scharfe Beobachter oft von sich gefordert haben. Es können zwei Phänomene miteinander verwandt sein, aber doch noch lange nicht so nah als wir glauben. Zwei Versuche können scheinen auseinander zu folgen, wenn zwischen ihnen noch eine große Reihe stehen sollte, um sie in eine recht natürliche Verbindung zu brin-gen.
Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, daß man aus Versuchen nicht zu geschwind folgere, daß man aus Versuchen nicht unmittelbar etwas beweisen, noch irgendeine Theorie durch Versuche bestätigen wolle; denn hier an diesem Passe, beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, die ihn schon da mit ihren Fittichen in die Höhe hebt, wenn er noch immer den Erdboden zu berühren glaubt, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlich-keit, Leichtsinn, Veränderlichkeit, und wie die ganze Schar s mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinter-halte und überwältigen unversehens den handelnden, so auch den stillen, von allen Leidenschaften gesichert schei-nenden Beobachter.
Ich möchte zur Warnung dieser Gefahr, welche größer und näher ist als man denkt, hier eine Art von Paradoxon aufstellen, um eine lebhaftere Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wage nämlich zu behaupten: daß Ein Versuch, ja meh-rere Versuche in Verbindung nichts beweisen, ja daß nichts gefährlicher sei als irgendeinen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen, und daß die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, daß man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen. Ich muß mich deutlicher erklären, um nicht in den Verdacht zu geraten, als wollte ich dem Zweifel Tür und Tor eröffnen. Eine jede Erfahrung, die wir machen, ein jeder Versuch, durch den wir sie wiederholen, ist eigentlich ein isolierter Teil unserer Erkenntnis, durch öftere Wiederholung bringen wir diese isolierte Kenntnis zur Gewißheit. Es können uns zwei Erfahrungen in demselben Fache bekannt werden, sie können nahe verwandt sein aber noch näher verwandt schei-nen, und gewöhnlich sind wir geneigt, sie für näher ver-wandt zu halten als sie sind. Es ist dieses der Natur des Menschen gemäß, die Geschichte des menschlichen Ver-standes zeigt uns tausend Beispiele und ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen Fehler fast täglich begehe.
Es ist dieser Fehler mit einem andern nahe verwandt, aus dem er auch meistenteils entspringt. Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, insofern er sich dieselbe vorstellt, sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine erheben, noch so sehr reini-gen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur eine Vorstellungsart; das heißt ein Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, untereinander nicht haben, daher die Neigung zu Hypo-thesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus der Organisation unsers Wesens notwendig entspringen müssen.
Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind, von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles, was außer ihr ist und was ihr bekannt wird, mit einer unge-heuern Gewalt zu verbinden strebt, so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man läuft, wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder irgendein Verhält-nis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Ver-suche beweisen wollen.
Es entstehen durch eine solche Bemühung meistenteils Theorien und Systeme, die dem Scharfsinn der Verfasser Ehre machen, die aber, wenn sie mehr, als billig ist, Beifall finden, wenn sie sich länger, als recht ist, erhalten, dem Fortschritte des menschlichen Geistes, den sie im gewissen Sinne befördern, sogleich wieder hemmen und schädlich werden.
Man wird bemerken können, daß ein guter Kopf nur desto mehr Kunst anwendet, je weniger Data vor ihm liegen; daß er, gleichsam seine Herrschaft zu zeigen, selbst aus den vorliegenden Datis nur wenige Günstlinge herauswählt, die ihm schmeicheln, daß er die übrigen so zu ordnen weiß, daß sie ihm nicht geradezu widersprechen, und daß er die feindseligen zuletzt so zu verwickeln, zu umspinnen und beiseite -zu bringen weiß, daß wirklich nunmehr das Ganze nicht mehr einer freiwirkenden Republik, sondern einem des-potischen Hofe ähnlich wird.
Einem Mann der so viel Verdienst hat kann es an Bewunderern und Schülern nicht fehlen, die ein solches Gewebe historisch kennen lernen und bewundern und, insofern es möglich ist, sich die Vorstellungsart ihres Meisters eigen machen. Oft gewinnt eine solche Lehre dergestalt die Über-hand, daß man für frech und verwegen gehalten würde, wenn man an ihr zu zweifeln sich erkühnte. Nur spätere Jahrhunderte würden sich an ein solches Heiligtum wagen, den Gegenstand einer Betrachtung dem gemeinen Menschen-sinn wieder vindizieren und die Sache etwas leichter nehmen, und von dem Stifter einer Sekte das wiederholen, was ein witziger Kopf von einem großen Naturlehrer gesagt: er wäre ein großer Mann gewesen, wenn er nicht so viel erfunden hätte.
Es möchte aber nicht genug sein, die Gefahr anzuzeigen und vor derselbigen zu warnen. Es ist billig, daß man wenigstens seine Meinung eröffne und zu erkennen gebe, wie man selbst einen solchen Abweg zu vermeiden glaubt, oder ob man gefunden, wie ihn ein anderer vor uns vermieden habe.
Ich habe vorhin gesagt, daß ich die unmittelbare Anwendung eines Versuchs zum Beweis irgendeiner Hypothese für schädlich halte, und habe dadurch zu erkennen gegeben, daß ich eine mittelbare Anwendung derselben für nützlich halte, und da auf diesen Punkt alles ankommt, so ist es nötig, sich deutlich zu erklären.
In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuch nur als isolierte Fakta anzusehen haben, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Bege-benheit.
Wir haben oben gesehen, daß diejenigen am ersten dem Irrtume unterworfen waren, welche ein isoliertes Faktum mit ihrer Denk- und Urteilskraft unmittelbar zu verbinden suchten. Dagegen werden wir finden, daß diejenigen am meisten geleistet haben, welche nicht ablassen alle Seiten und Modifikationen einer einzigen Erfahrung, eines ein-zigen Versuches nach aller Möglichkeit durchzuforschen und durchzuarbeiten.
Es verdient künftig eine eigene Betrachtung, wie uns auf diesem Wege der Verstand zu Hülfe kommen könne. Hier sei nur so viel davon gesagt. Da alles in der Natur, besonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen auf allen Seiten aussendet. Haben wir also einen solchen Versuch gefaßt, eine solche Erfahrung gemacht, so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn grenzt, was zunächst aus ihm folgt, dieses ists, worauf wir mehr zu sehen haben, als was sich auf ihn bezieht. Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches ist also die eigent-liche Pflicht eines Naturforschers. Er hat gerade die umge-kehrte Pflicht eines Schriftstellers, der unterhalten will.. Dieser wird Langeweile erregen wenn er. nichts zu denken übrig läßt, jener muß rastlos arbeiten, als wenn er seinen Nachfolgern nichts zu tun übriglassen wollte, wenn ihn gleich die Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge zeitig genug erinnern wird, daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe in irgendeiner Sache abzuschließen.
Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst aneinander grenzen und sich unmittel-bar berühren, ja, wenn man sie alle genau kennt und über-sieht, gleichsam nur Einen Versuch ausmachen, nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen.
Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt die Formel vor, unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel aus-gedruckt werden. Auf solche Erfahrungen der höheren Art loszuarbeiten halt' ich für die Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vorzüglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben, und die Bedächtlich-keit nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, häben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns an keine Rechnung wagen, müssen wir immer so zu Werke gehen , als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären.
Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen ein-fachen Teilen und in seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden. Und so sind ihre Demonstrationen immer mehr Darlegungen, Rekapitulationen als Argumente. Da ich diesen Unterschied hier mache, so sei es mir erlaubt, einen Rückblick zu tun.
Man sieht den großen Unterschied zwischen einer mathe-matischen Demonstration, welche die ersten Elemente durch so viele Verbindungen durchführt, und zwischen dem Beweis, den ein kluger Redner aus Argumenten führen könnte. Argumente können ganz isolierte Verhältnisse ent-halten, und dennoch durch Witz und Einbildungskraft auf =s Einen Punkt zusammengeführt und der Schein eines Rechts oder Unrechts, eines Wahren oder Falschen überraschend genug hervorgebracht werden. Ebenso kann man, zugun-sten einer Hypothese oder Theorie, die einzelnen Versuche gleich Argumenten zusammenstellen und einen Beweis führen, der mehr oder weniger blendet.
Wem es dagegen zu tun ist, mit sich selbst und andern redlich zu Werke zu gehen, der wird durch die sorgfältigste Ausbildung einzelner Versuche die Erfahrungen der höheren Art auszubilden suchen. Diese lassen sich durch kurze und faßliche Sätze aussprechen, nebeneinander stellen, und je mehr ihrer ausgebildet werden, können sie geordnet und in ein solches Verhältnis gebracht werden, daß sie so gut als mathematische Sätze entweder einzeln oder zusammenge-nommen unerschütterlich stehen. Die Elemente dieser Erfahrungen der höheren Art, welches viele einzelne Versuche sind, können alsdann von jedem untersucht und geprüft werden und es ist nicht schwer zu beurteilen, ob die vielen einzelnen Teile durch einen allgemeinen Satz ausgesprochen werden können, denn hier findet keine Willkür statt.
Bei der andern Methode aber, wo wir irgend etwas, was wir behaupten, durch isolierte Versuche gleichsam als durch Argumente beweisen wollen, wird das Urteil öfters nur erschlichen, wenn es nicht gar in Zweifel stehen bleibt. Hat man aber eine Reihe Erfahrungen der höheren Art zusam-mengebracht, so übe sich alsdann der Verstand, die Einbil-dungskraft, der Witz an denselben wie er nur mag. Dieses wird nicht schädlich, ja es wird nützlich sein. jene erste Arbeit kann nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden; denn sie wird für Welt und Nachwelt unternommen. Aber diese Materialien müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein, nicht auf eine hypothetische Weise zusammengestellt, nicht zu einer systematischen Form verwendet. Es steht alsdenn einem jeden frei, sie nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus zu bilden, das der menschlichen Vorstellungsart überhaupt mehr oder weniger bequem und angenehm sei. Auf diese Weise wird unterschieden, was zu unterscheiden ist, und man kann die Sammlung von Erfahrungen viel schneller und reiner vermehren, als wenn man die späteren Versuche, wie Steine die nach einem geendigten Bau herbeigeschafft werden, unbenutzt beiseitelegen muß.
Die Meinung der vorzüglichsten Männer und ihr Beispiel läßt mich hoffen, daß ich auf dem rechten Wege sei, und ich wünsche, daß mit dieser Erklärung meine Freunde zufrieden sein mögen, die mich manchmal fragen: was denn eigentlich bei meinen optischen Bemühungen meine Absicht sei? Meine Absicht ist: alle Erfahrungen in diesem Fache zu sammeln, alle Versuche selbst anzustellen und sie durch ihre größte Mannigfaltigkeit durchzuführen, wodurch sie denn auch leicht nachzumachen und nicht aus dem Gesichts-kreise so vieler Menschen hinausgerückt seien. Sodann die Sätze, in welchen sich die Erfahrungen von der höheren Gattung aussprechen lassen, aufzustellen und abzuwarten, inwiefern sich auch diese unter einhöheres Prinzip rangieren. Sollte indes die Einbildungskraft und der Witz ungeduldig manchmal vorauseilen, so gibt die Verfahrungsart selbst den Maßstab des Punktes an, wohin sie wieder zurückzukehren haben.
D. 28. Apr. 1792.

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