Johann Wolfgang
von Goethe
MORPHOLOGIE
DAS UNTERNEHMEN WIRD ENTSCHULDIGT
Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe Bd 13
Naturwissenschaftliche Schriften s-53
(Aus: Zur Morphologie, 1817)
Wenn der zur lebhaften Beobachtung aufgeforderte Mensch mit der
Natur einen Kampf zu bestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheuern
Trieb, die Gegenstände sich zu unterwerfen. Es dauert aber nicht lange,
so dringen sie der-gestalt gewaltig auf ihn ein, daß er wohl fühlt,
wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Ein-wirkung zu
verehren. Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluß,
so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit
des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse,
an sich selbst aber die Möglichkeit einer unend-lichen Ausbildung, indem
er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des
Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht. Diese Zustände geben einen
hohen Genuß und würden das Glück des Lebens ent-scheiden, wenn
nicht innre und äußre Hindernisse dem schönen Lauf zur Vollendung
sich entgegenstellten. Die =o Jahre, die erst brachten, fangen an zu nehmen;
man begnügt sich in seinem Maß mit dem Erworbenen, und ergetzt sich
daran um so mehr im stillen, als von außen eine aufrichtige, reine, belebende
Teilnahme selten ist.
Wie wenige fühlen sich von dem begeistert, was eigentlich nur dem Geist
erscheint. Die Sinne, das Gefühl, das Gemüt üben weit größere
Macht über uns aus, und zwar mit Recht: denn wir sind aufs Leben und nicht
auf die Betrachtung angewiesen.
Leider findet man aber auch bei denen, die sich dem -Erkennen, dem Wissen ergeben,
selten eine wünschenswerte Teilnahme. Dem Verständigen, auf das Besondere
merken-den, genau Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen
das zur Last, was aus einer Idee kommt und auf sie zurückführt. Er
ist in seinem Labyrinth auf eine eigene Weise zu Hause, ohne daß er sich
um einen Faden bekümmerte, der schneller durch und durch führte; und
solchem scheint ein Metall, das nicht ausgemünzt ist, nicht aufgezählt
werden n kann, ein lästiger Besitz; dahingegen der, der sich auf höhern
Standpunkten befindet, gar leicht das einzelne verachtet, und dasjenige, was
nur gesondert ein Leben hat, in eine tötende Allgemeinheit zusammenreißt.
In diesem Konflikt befinden wir uns schon seit langer Zeit. Es ist darin gar
manches getan, gar manches zerstört worden; und ich würde nicht in
Versuchung kommen, meine Ansichten der Natur, in einem schwachen Kahn, dem Ozean
der Meinungen zu übergeben, hätten wir nicht in den erstvergangenen
Stunden der Gefahr so lebhaft gefühlt, welchen Wert Papiere für uns
behalten, in welche wir früher einen Teil unseres Daseins niederzulegen
bewogen worden.
Mag daher das, was ich mir in jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte,
nun als Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten, und als das,
was es ist, wirken und nutzen. So viel hatte ich zu sagen, um diese vieljährige
Skizzen, davon jedoch einzelne Teile mehr oder weniger ausgeführt sind,
dem Wohlwollen meiner Zeitgenossen zu empfehlen. Gar manches, was noch zu sagen
sein möchte, wird im Fortschritte des Unternehmens am besten eingeführt
werden.
Jena, i8o7.
DIE ABSICHT EINGELEITET
(Aus: Zur Morphologie, 18 17)
Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen
Io dergestalt gewahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang
ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer
solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können;
wie denn auch wirklich dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist.
Was Chemie und Anatomie zur Ein- und Übersicht der Natur beigetragen haben,
dürfen wir nur mit wenig Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis
zurückrufen.
Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen
auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber
man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt
schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern.
Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Men-schen zu allen Zeiten ein
Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern
sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen
des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen
zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und
Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt
zu werden.
Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere
Versuche, eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie
nennen möchten. Unter wie mancherlei Formen diese Ver-suche erscheinen,
davon wird in dem geschichtlichen Teile die Rede sein.
Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das
Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt
an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in
seinem Charakter fixiert sei.
Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir,
daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes
vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.
Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervor-gebrachten, als
von dem Hervorgebracht werdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.
Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt
sprechen; sondern, wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die
Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes
denken.
Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen
zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam
zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht.
Wenn wir einen Körper auf dem anatomischen Wege in seine Teile zerlegen
und diese Teile wieder in das, worin sie sich trennen lassen, so kommen wir
zuletzt auf solche Anfänge, die man Similarteile genannt hat. Von diesen
ist hier nicht die Rede; wir machen vielmehr auf eine höhere Maxime des
Organismus aufmerksam, die wir folgender-maßen aussprechen.
Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehr-heit; selbst insofern
es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen
selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der
Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden
können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils
finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und
bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.
Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Teile einander
gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommner
das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In
jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das
Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind,
desto weniger sind sie einander sub-ordiniert. Die Subordination der Teile deutet
auf ein vollkommneres Geschöpf.
Da in allen allgemeinen Sprüchen, sie mögen noch so gut durchdacht
sein, etwas Unfaßliches für denjenigen liegt, der sie nicht anwenden,
der ihnen die nötigen Beispiele nicht unterlegen kann; so wollen wir zum
Anfang nur einige geben, da unsere ganze Arbeit der Aus- und Durchführung
dieser und andern Ideen und Maximen gewidmet ist.
Daß eine Pflanze, ja ein Baum, die uns doch als Individuum
erscheinen, aus lauter Einzelheiten bestehn, die sich untereinander und dem
Ganzen gleich und ähnlich sind, daran ist wohl kein Zweifel. Wie viele
Pflanzen werden durch Absenker fortgepflanzt. Das Auge der letzten Varietät
eines Obstbaumes treibt einen Zweig, der wieder eine Anzahl gleicher Augen hervorbringt;
und auf ebendiesem Wege geht die Fortpflanzung durch Samen vor sich. Sie ist
die Entwicklung einer unzähligen Menge gleicher Individuen aus dem Schoße
der Mutterpflanze.
Man sieht hier sogleich, daß das Geheimnis der Fortpflan-zung durch Samen
innerhalb jener Maxime schon ausge-sprochen ist; und man bemerke, man bedenke
nur erst recht, so wird man finden, daß selbst das Samenkorn, das uns
als eine individuelle Einheit vorzuliegen scheint, schon eine s Versammlung
von gleichen und ähnlichen Wesen ist. Man stellt die Bohne gewöhnlich
als ein deutliches Muster der Keimung auf. Man nehme eine Bohne, noch ehe sie
keimt, in ihrem ganz eingewickelten Zustande, und man findet nach Eröffnung
derselben erstlich die zwei Samenblätter, die man nicht glücklich
mit dem Mutterkuchen vergleicht: denn es sind zwei wahre, nur aufgetriebene
und mehlicht ausgefüllte Blätter, welche auch an Licht und Luft grün
werden. Ferner entdeckt man schon das Federchen, welches abermals zwei ausgebildetere
und weiterer Ausbildung fähige Blätter sind. Bedenkt man dabei, daß
hinter jedem Blattstiele ein Auge, wo nicht in der Wirklichkeit, doch in der
Möglichkeit ruht; so erblickt man in dem uns einfach scheinenden Samen
schon eine Versammlung von mehrern Einzelheiten, die man einander in der Idee
gleich und in der Erscheinung ähnlich nennen kann.
Daß nun das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als
gleich, oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich
erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur, das
wir in unsern Blättern zu entwerfen gedenken.
Eine Instanz aus dem Tierreich der niedrigsten Stufe führen wir noch zu
mehrerer Anleitung hier vor. Es gibt Infusionstiere, die sich in ziemlich einfacher
Gestalt vor unserm Auge in der Feuchtigkeit bewegen, sobald diese aber aufgetrocknet,
zerplatzen und eine Menge Körner aus-schütten, in die sie wahrscheinlich
bei einem naturgemäßen Gange sich auch in der Feuchtigkeit zerlegt
und so eine unendliche Nachkommenschaft hervorgebracht hätten. Doch genug
hievon an dieser Stelle, da bei unserer ganzen Dar-stellung diese Ansicht wieder
hervortreten muß.
Wenn man Pflanzen und Tiere in ihrem unvollkommen-sten Zustande betrachtet,
so sind sie kaum zu unterscheiden.Ein Lebenspunkt, starr, beweglich oder halbbeweglich,
ist das, was unserm Sinne kaum bemerkbar ist. Ob diese ersten Anfänge,
nach beiden Seiten determinabel, durch Licht zur Pflanze, durch Finsternis zum
Tier hinüberzuführen sind, getrauen wir uns nicht zu entscheiden,
ob es gleich hierüber an Bemerkungen und Analogie nicht fehlt. Soviel aber
kön-nen wir sagen, daß die aus einer kaum zu sondernden Ver-wandtschaft
als Pflanzen und Tiere nach und nach hervor-tretenden Geschöpfe nach zwei
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, so daß die Pflanze sich
zuletzt im Baum dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit
und Freiheit sich verherrlicht.
Gemmation und Prolifikation sind abermals zwei Haupt-maximen des Organismus,
die aus jenem Hauptsatz der Koexistenz mehrer gleichen und ähnlichen Wesen
sich herschreiben und eigentlich jene nur auf doppelte Weise aussprechen. Wir
werden diese beiden Wege durch das ganze organische Reich durchzuführen
suchen, wodurch sich manches auf eine höchst anschauliche Weise reihen
und ordnen wird.
Indem wir den vegetativen Typus betrachten, so stellt sich uns bei demselben
sogleich ein Unten und Oben dar. Die untere Stelle nimmt die Wurzel ein, deren
Wirkung nach der Erde hingeht, der Feuchtigkeit und der Finsternis angehört,
da in gerade entgegengesetzter Richtung der Stengel, der Stamm, oder was dessen
Stelle bezeichnet, gegen den Himmel, das Licht und die Luft emporstrebt.
Wie wir nun einen solchen Wunderbau betrachten und die Art, wie er hervorsteigt,
näher einsehen lernen, so begeg-net uns abermals ein wichtiger Grundsatz
der Organisation:
daß kein Leben auf einer Oberfläche wirken und daselbst seine hervorbringende
Kraft äußern könne; sondern die ganze Lebenstätigkeit verlangt
eine Hülle, die gegen das äußere rohe Element, es sei Wasser
oder Luft oder Licht, sie schütze, ihr zartes Wesen bewahre, damit sie
das, was ihrem s Innern spezifisch obliegt, vollbringe. Diese Hülle mag
nun als Rinde, Haut oder Schale erscheinen, alles was zum Leben hervortreten,
alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein. Und so gehört
auch alles, was nach außen gekehrt ist, nach und nach frühzeitig
dem Tode, der Verwesung an. Die =~ Rinden der Bäume, die Häute der
Insekten, die Haare und Federn der Tiere, selbst die Oberhaut des Menschen sind
ewig sich absondernde, abgestoßene, dem Unleben hinge-gebene Hüllen,
hinter denen immer neue Hüllen sich bilden, unter welchen sodann, oberflächlicher
oder tiefer, das Leben =s sein schaffendes Gewebe hervorbringt.
Jena, 1807.
BETRACHTUNG ÜBER MORPHOLOGIE
Bezeichnung und Absonderung des Feldes, worin gear-beitet wird.
Phänomen der organischen Struktur.
Phänomen der einfachsten, die eine bloße Aggregation der Teile zu
sein scheint, oft aber ebenso gut durch Evo-lution oder Epigenese zu erklären
wäre.
Steigerung dieses Phänomens und Vereinigung dieser Struktur zur tierischen
Einheit.
Form.
Notwendigkeit, alle Vorstellungsarten zusammenzuneh-men, keinesweges die Dinge
und ihr Wesen zu ergründen, sondern von dem Phänomene nur einigermaßen
Rechenschaft zu geben und dasjenige, was man erkannt und gesehen hat, andern
mitzuteilen.
Diejenigen Körper, welche wir organisch nennen, haben die
Eigenschaft, an sich oder aus sich ihresgleichen hervor-
zubringen.
Dieses gehört mit zum Begriff eines organischen Wesens, und wir können
davon weiter keine Rechenschaft geben.
Das Neue, Gleiche ist anfangs immer ein Teil desselbigen und kommt in diesem
Sinne aus ihm hervor. Dieses begün-stigt die Idee von Evolution; das Neue
kann sich aber nicht aus dem Alten entwickeln, ohne daß das Alte durch
eine gewisse Aufnahme äußerer Nahrung zu einer Art von Vollkommenheit
gelangt sei. Dieses begünstigt den Begriff der Epigenese. Beide Vorstellungsarten
sind aber roh und grob gegen die Zartheit des unergründlichen Gegenstandes.
An einem lebendigen Gegenstand fällt uns zuerst seine Form im ganzen in
die Augen, dann die Teile dieser Form, ihre Gestalt und Verbindung.
Mit der Form im allgemeinen und mit dem Verhältnis und der Verbindung der
Teile, insofern sie äußerlich sicht-bar sind, beschäftigt sich
die Naturgeschichte, insofern sie sich dem Auge aber erst darlegen, wenn die
Gestalt getrennt ist, nennen wir diese Bemühung die Zergliederungskunst;
sie geht nicht allein auf die Gestaltader Teile, sondern auch auf die Struktur
derselben im Innern und ruft alsdann wie billig das Vergrößerungsglas
zu Hülfe.
Wenn dann so auf diese Weise der organische Körper =s mehr oder weniger
zerstört worden ist, so daß seine Form aufgehoben ist und seine Teile
als Materie betrachtet werden können, dann tritt früh oder später
die Chemie ein und gibt uns neue und schöne Aufschlüsse über
die letzten Teile und ihre Mischung.
Wenn wir nun aus allen diesen einzeln beobachteten Phänomenen dieses zerstörte
Geschöpf wieder palingene-sieren und es wieder lebendig in seinem gesunden
Zustande betrachten, so nennen wir dieses unsere physiologischen Bemühungen.
Da nun die Physiologie diejenige Operation des Geistes ist, da wir aus Lebendigem
und Totem, aus Bekanntem und Unbekanntem, durch Anschauen und Schlüsse,
aus Voll-ständigem und Unvollständigem ein Ganzes zusammensetzen wollen,
das sichtbar und unsichtbar zugleich ist, dessen Außenseite uns nur als
ein Ganzes, dessen Inneres uns nur als ein Teil und dessen Äußerungen
und Wirkungen uns immer geheimnisvoll bleiben müssen, so läßt
sich leicht einsehen, warum die Physiologie so lange zurückbleiben mußte,
und warum sie vielleicht ewig zurückbleibt: weil der Mensch seine Beschränkung
immer fühlt und sie selten anerkennen will.
Die Anatomie hat sich auf einen solchen Grad der Genauig-keit und Bestimmtheit
erhoben, daß ihre deutliche Kenntnis schon für sich eine Art von
Physiologie ausmacht.
Die Körper werden bewegt, insofern sie eine Länge, Breite und Schwere
haben, Druck und Stoß auf sie wirkt, und sie auf eine oder die andere
Weise von der Stelle gebracht werden können. Deshalb haben Männer,
welchen diese Naturgesetze gegenwärtig und bekannt waren, sie nicht ohne
Nutzen auf den organischen Körper und seine Bewe-gungen angewandt.
So hat auch die Chemie die Veränderung der kleinsten Teile sowie ihre Zusammensetzung
genau beobachtet, und ihre letzte wichtige Tätigkeit und Feinheit gibt
ihr mehr als jemals ein Recht ihre Ansprüche zu Enthüllung organischer
Naturen geltend zu machen.
Aus allem diesem, wenn man auch das übrige, was ich hier übergehe,
nicht in Betracht zieht, sieht man leicht ein, daß man Ursache hat, alle
Gemütskräfte aufzubieten, wenn wir im ganzen nach Einsicht dieser
Verborgenheiten streben, daß man Ursache hat, alle innere und äußere
Werkzeuge zu brauchen und alle Vorteile zu benutzen, wenn wir an diese immer
unendliche Arbeit uns heranwagen. Selbst eine ge-wisse Einseitigkeit ist dem
Ganzen nicht schädlich; es halte immer ein jeder seinen eignen Weg für
den besten, wenn er ihn nur recht ebnet und aufräumt, so daß die
Folgenden bequemer und schneller denselben zurücklegen.
Rekapitulation der verschiedenen Wissenschaften.
a) Kenntnis der organischen Naturen nach ihrem Habitus und nach
dem Unterschied ihrer Gestaltsverhältnisse.
Naturgeschichte.
b) Kenntnis der materiellen Naturen überhaupt als Kräfte und in ihren
Ortsverhältnissen.
Naturlehre.
c) Kenntnis der organischen Naturen nach ihren innern und äußern
Teilen, ohne aufs lebendige Ganze Rücksicht zu nehmen.
Anatomie.
d) Kenntnis der Teile eines organischen Körpers insofern er aufhört
organisch zu sein, oder insofern seine Organisation nur als stoffhervorbringend
und als stoffzusammengesetzt angesehen wird.
Chemie.
e) Betrachtung des Ganzen insofern es lebt und diesem Leben eine besondere physische
Kraft untergelegt wird.
Zoonomie.
f) Betrachtung des Ganzen insofern es lebt und wirkt und diesem Leben eine geistige
Kraft untergelegt wird.
Psychologie.
g) Betrachtung der Gestalt sowohl in ihren Teilen als im gan-zen, ihren Übereinstimmungen
und Abweichungen ohne alle andere Rücksichten.
Morphologie.
h) Betrachtung des organischen Ganzen durch- Vergegen-wärtigung aller dieser
Rücksichten und Verknüpfung der-
selben durch die Kraft des Geistes.
Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe Bd 13
Naturwissenschaftliche Schriften s 123
Betrachtung über Morphologie überhaupt
Die Morphologie kann als eine Lehre für sich und als eine
Hülfswissenschaft der Physiologie angesehen werden. Sie ruht im ganzen
auf der Naturgeschichte, aus der sie die Phänomene zu ihrem Behufe herausnimmt.
Ingleichen auf der Anatomie aller organischen Körper und besonders der
Zootomie.
Da sie nur darstellen und nicht erklären will, so nimmt sie von den übrigen
Hülfswissenschaften der Physiologie so wenig als möglich in sich auf,
ob sie gleich so wenig die Kraft- und Ortverhältnisse des Physikers als
die Stoff- und Mischungsverhältnisse des Chemikers außer Augen läßt,
sie wird durch ihre Beschränkung eigentlich nur zur besondern Lehre, sieht
sich überall als Dienerin der Physiologie und mit den übrigen Hülfswissenschaften
koordiniert an.
Indem wir in der Morphologie eine neue Wissenschaft aufzustellen gedenken, zwar
nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und
der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigne Gestalt geben muß
als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat, so wollen
wir zuvörderst erst dieses letzte darlegen und ihr Verhältnis zu den
übrigen verwandten Wissenschaften zeigen, sodann ihren Inhalt und die Art
ihrer Darstellung vorlegen.
Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der
organischen Körper enthalten;
sie gehört daher zu den Naturwissenschaften, deren beson-dere Zwecke wir
nunmehr durchgehen.
Die Naturgeschichte nimmt die mannigfaltige Gestalt der organischen Wesen als
ein bekanntes Phänomen an. Es kann ihr nicht entgehen, daß diese
große Mannigfaltigkeit den-noch eine gewisse Übereinstimmung teils
im allgemeinen, teils im besondern zeigt, sie führt nicht nur die ihr bekannten
Körper vor, sondern sie ordnet sie bald in Gruppen, bald in Reihen nach
den Gestalten, die man sieht, nach den Eigen-schaften, die man aufsucht und
erkennt, und macht es da-durch möglich, die ungeheure Mässe zu übersehen;
ihre Arbeit ist doppelt: teils immer neue Gegenstände aufzu-finden, teils
die Gegenstände immer mehr der Natur und den Eigenschaften gemäß
zu ordnen und alle Willkür, inso-fern es möglich wäre, zu verbannen.
Indem nun also die Naturgeschichte sich an die äußere Erscheinung
der Gestalten hält, und sie im ganzen betrach-tet, so dringt die Anatomie
auf die Kenntnis der innern Struktur, auf die Zergliederung des menschlichen
Körpers als des würdigsten Gegenstandes und desjenigen, der so mancher
Beihülfe bedarf, die ohne genaue Einsicht in seine Organisation ihm nicht
geleistet werden kann. In der Ana-tomie der übrigen organisierten Geschöpfe
ist vieles ge-schehen, es liegt aber so zerstreut, ist meist so unvollständig
und manchmal auch falsch beobachtet, daß für den Natur-forscher die
Masse beinah unbrauchbar ist und bleibt.
BETRACHTUNG ÜBER MORPHOLOGIE 125
Die Erfahrung, die uns Naturgeschichte und Anatomie geben, teils
zu erweitern und zu verfolgen, teils zusammenzufassen und zu benutzen, hat man
teils fremde Wissen-schaften angewandt, verwandte herbeigezogen, auch eigne
Gesichtspunkte festgestellt, immer um das Bedürfnis einer allgemeinen physiologischen
Übersicht auszufüllen, und man hat dadurch, ob man gleich nach menschlicher
Weise gewöhnlich zu einseitig verfahren ist und verfährt, dennoch
den Physiologen der künftigen Zeit trefflich vorgearbeitet. Von dem Physiker
im strengsten Sinne hat die Lehre der organischen Natur nur die allgemeinen
Verhältnisse der Kräfte und ihrer Stellung und Lage in dem gegebenen
Welt-raum nehmen können. Die Anwendung mechanischer Prinzi-pien auf organische
Naturen hat uns auf die Vollkommenheit der lebendigen Wesen nur desto aufmerksamer
gemacht, und man dürfte beinah sagen, daß die organischen Naturen
nur desto vollkommner werden, je weniger die mechanischen Prinzipien bei denselben
anwendbar sind. Dem Chemiker, der Gestalt und Struktur aufhebt und bloß
auf die Eigenschaften der Stoffe und auf die Verhält-nisse ihrer Mischungen
achthat, ist man auch in diesem Fache viel schuldig, und man wird ihm noch mehr
schuldig werden, da die neueren Entdeckungen die feinsten Trennun-gen und Verbindungen
erlauben, und man also auch den unendlich zarten Arbeiten eines lebendigen organischen
Körpers sich dadurch zu nähern hoffen kann. Wie wir nun schon durch
genaue Beobachtung der Struktur eine anato-mische Physiologie erhalten haben,
so können wir mit der Zeit auch eine physisch-chemische uns versprechen,
und es ist zu wünschen, daß beide Wissenschaften immer so fortschreiten
mögen, als wenn jede allein das ganze Geschäft vollenden wollte.
Da sie beide aber nur trennend sind und die chemischen Zusammensetzungen eigentlich
nur auf Trennungen be-ruhen, so ist es natürlich, daß diese Arten,
sich organische Körper bekannt zu machen und vorzustellen, nicht allen
Menschen genugtun, deren manche die Tendenz haben von einer Einheit auszugehen,
aus ihr die Teile zu entwicklen und die Teile darauf wieder unmittelbar zurückzuführen.
Hierzu gibt uns die Natur organischer Körper den schönsten Anlaß:
denn da die vollkommensten derselben uns als eine von allen übrigen Wesen
getrennte Einheit erscheinet, da wir uns selbst einer solchen Einheit bewußt
sind, da wir den vollkommensten Zustand der Gesundheit nur dadurch gewahr werden,
daß wir die Teile unseres Ganzen nicht, sondern nur das Ganze empfinden,
da alles dieses nur exi-stieren kann, insofern die Naturen organisiert sind,
und sie nur durch den Zustand, den wir das Leben nennen, organi-siert und in
Tätigkeit erhalten werden können: so war nichts natürlicher,
als daß man eine Zoonomie aufzustellen ver-suchte und denen Gesetzen,
wornach eine organische Natur zu leben bestimmt ist, nachzuforschen trachtete;
mit völliger Befugnis legte man diesem Leben, um des Vortrags willen, eine
Kraft unter, man konnte, ja man mußte sie annehmen, weil das Leben in
seiner Einheit sich als Kraft äußert, die in keinem der Teile besonders
enthalten ist.
Wir können eine organische Natur nicht lange als Einheit betrachten, wir
können uns selbst nicht lange als Einheit denken, so finden wir uns zu
zwei Ansichten genötigt und wir betrachten uns einmal als ein Wesen, das
in die Sinne fällt, ein andermal als ein anderes, das nur durch den innern
Sinn erkannt oder durch seine Wirkungen bemerkt werden kann.
Die Zoonomie zerfällt daher in zwei nicht leicht vonein-ander zu trennende
Teile, nämlich in die körperliche und in die geistige. Beide können
zwar nicht voneinander getrennt werden, aber der Bearbeiter dieses Faches kann
von der einen oder der andern Seite ausgehen und so einer oder der andern das
Übergewicht verschaffen.
Nicht aber allein diese Wissenschaften, wie sie hier auf-gezählt worden
sind, verlangen nur ihren Mann allein, son-dern sogar einzelne Teile derselben
nehmen die Lebenszeit des Menschen hin; eine noch größere Schwierigkeit
entsteht daher, daß diese sämtliche Wissenschaften beinah nur von
Ärzten getrieben werden, die denn sehr bald durch die Ausübung, so
sehr sie ihnen auch von einer Seite zu Aus-bildung der Erfahrung zu Hülfe
kömmt, doch immer von weiterer Ausbreitung abgehalten werden.
Man sieht daher wohl ein, daß demjenigen, der als Physio-log
alle diese Betrachtungen zusammenfassen soll, noch viel vorgearbeitet werden
muß, wenn derselbe künftig alle diese Betrachtungen in eins fassen
und, insofern es dem mensch-lichen Geist erlaubt ist, dem großen Gegenstande
gemäß s erkennen soll. Hierzu gehört zweckmäßige
Tätigkeit von allen Seiten, woran es weder gefehlt hat noch fehlt, und
bei der jeder schneller und sichrer fahren würde, wenn er zwar von Einer
Seite, aber nicht einseitig arbeitete und die Ver-dienste aller übrigen
Mitarbeiter mit Freudigkeit anerkennte, anstatt, wie es gewöhnlich geschieht,
seine Vorstellungsart an die Spitze zu setzen.
Nachdem wir nun also die verschiedenen Wissenschaften, die dem Physiologen in
die Hand arbeiten, aufgeführt und ihre Verhältnisse dargestellt haben,
so wird es nunmehr Zeit sein, daß sich die Morphologie als eine besondere
Wissen-schaft legitimiert.
So nimmt man sie auch; und sie muß sich als eine beson-dere Wissenschaft
erst legitimieren, indem sie das, was bei andern gelegentlich und zufällig
abgehandelt ist, zu ihrem Hauptgegenstande macht, indem sie das, was dort zerstreut
ist, sammelt, und einen neuen Standort feststellt, woraus die natürlichen
Dinge sich mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit betrachten lassen. Sie hat den
großen Vorteil, daß sie aus Elementen besteht, die allgemein anerkannt
sind, daß sie mit keiner Lehre im Widerstreite steht, daß sie nichts
wegzu-räumen braucht, um sich Platz zu verschaffen, daß die Phänomene,
mit denen sie sich beschäftigt, höchst bedeutend sind, und daß
die Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt,
der menschlichen Natur angemessen und angenehm sind, so daß auch ein fehlgeschla-gener
Versuch darin selbst noch Nutzen und Anmut ver-binden könnte.