Johann Wolfgang von Goethe
MORPHOLOGIE

DAS UNTERNEHMEN WIRD ENTSCHULDIGT

Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe Bd 13
Naturwissenschaftliche Schriften s-53

(Aus: Zur Morphologie, 1817)

Wenn der zur lebhaften Beobachtung aufgeforderte Mensch mit der Natur einen Kampf zu bestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheuern Trieb, die Gegenstände sich zu unterwerfen. Es dauert aber nicht lange, so dringen sie der-gestalt gewaltig auf ihn ein, daß er wohl fühlt, wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Ein-wirkung zu verehren. Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluß, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unend-lichen Ausbildung, indem er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht. Diese Zustände geben einen hohen Genuß und würden das Glück des Lebens ent-scheiden, wenn nicht innre und äußre Hindernisse dem schönen Lauf zur Vollendung sich entgegenstellten. Die =o Jahre, die erst brachten, fangen an zu nehmen; man begnügt sich in seinem Maß mit dem Erworbenen, und ergetzt sich daran um so mehr im stillen, als von außen eine aufrichtige, reine, belebende Teilnahme selten ist.
Wie wenige fühlen sich von dem begeistert, was eigentlich nur dem Geist erscheint. Die Sinne, das Gefühl, das Gemüt üben weit größere Macht über uns aus, und zwar mit Recht: denn wir sind aufs Leben und nicht auf die Betrachtung angewiesen.
Leider findet man aber auch bei denen, die sich dem -Erkennen, dem Wissen ergeben, selten eine wünschenswerte Teilnahme. Dem Verständigen, auf das Besondere merken-den, genau Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen das zur Last, was aus einer Idee kommt und auf sie zurückführt. Er ist in seinem Labyrinth auf eine eigene Weise zu Hause, ohne daß er sich um einen Faden bekümmerte, der schneller durch und durch führte; und solchem scheint ein Metall, das nicht ausgemünzt ist, nicht aufgezählt werden n kann, ein lästiger Besitz; dahingegen der, der sich auf höhern Standpunkten befindet, gar leicht das einzelne verachtet, und dasjenige, was nur gesondert ein Leben hat, in eine tötende Allgemeinheit zusammenreißt.
In diesem Konflikt befinden wir uns schon seit langer Zeit. Es ist darin gar manches getan, gar manches zerstört worden; und ich würde nicht in Versuchung kommen, meine Ansichten der Natur, in einem schwachen Kahn, dem Ozean der Meinungen zu übergeben, hätten wir nicht in den erstvergangenen Stunden der Gefahr so lebhaft gefühlt, welchen Wert Papiere für uns behalten, in welche wir früher einen Teil unseres Daseins niederzulegen bewogen worden.
Mag daher das, was ich mir in jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte, nun als Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten, und als das, was es ist, wirken und nutzen. So viel hatte ich zu sagen, um diese vieljährige Skizzen, davon jedoch einzelne Teile mehr oder weniger ausgeführt sind, dem Wohlwollen meiner Zeitgenossen zu empfehlen. Gar manches, was noch zu sagen sein möchte, wird im Fortschritte des Unternehmens am besten eingeführt werden.

Jena, i8o7.

DIE ABSICHT EINGELEITET

(Aus: Zur Morphologie, 18 17)

Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen Io dergestalt gewahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können; wie denn auch wirklich dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. Was Chemie und Anatomie zur Ein- und Übersicht der Natur beigetragen haben, dürfen wir nur mit wenig Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis zurückrufen.
Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern.
Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Men-schen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden.
Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche, eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten. Unter wie mancherlei Formen diese Ver-suche erscheinen, davon wird in dem geschichtlichen Teile die Rede sein.
Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.
Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervor-gebrachten, als von dem Hervorgebracht werdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.
Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern, wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken.
Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht.
Wenn wir einen Körper auf dem anatomischen Wege in seine Teile zerlegen und diese Teile wieder in das, worin sie sich trennen lassen, so kommen wir zuletzt auf solche Anfänge, die man Similarteile genannt hat. Von diesen ist hier nicht die Rede; wir machen vielmehr auf eine höhere Maxime des Organismus aufmerksam, die wir folgender-maßen aussprechen.
Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehr-heit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.
Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommner das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander sub-ordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf.
Da in allen allgemeinen Sprüchen, sie mögen noch so gut durchdacht sein, etwas Unfaßliches für denjenigen liegt, der sie nicht anwenden, der ihnen die nötigen Beispiele nicht unterlegen kann; so wollen wir zum Anfang nur einige geben, da unsere ganze Arbeit der Aus- und Durchführung dieser und andern Ideen und Maximen gewidmet ist.

Daß eine Pflanze, ja ein Baum, die uns doch als Individuum erscheinen, aus lauter Einzelheiten bestehn, die sich untereinander und dem Ganzen gleich und ähnlich sind, daran ist wohl kein Zweifel. Wie viele Pflanzen werden durch Absenker fortgepflanzt. Das Auge der letzten Varietät eines Obstbaumes treibt einen Zweig, der wieder eine Anzahl gleicher Augen hervorbringt; und auf ebendiesem Wege geht die Fortpflanzung durch Samen vor sich. Sie ist die Entwicklung einer unzähligen Menge gleicher Individuen aus dem Schoße der Mutterpflanze.
Man sieht hier sogleich, daß das Geheimnis der Fortpflan-zung durch Samen innerhalb jener Maxime schon ausge-sprochen ist; und man bemerke, man bedenke nur erst recht, so wird man finden, daß selbst das Samenkorn, das uns als eine individuelle Einheit vorzuliegen scheint, schon eine s Versammlung von gleichen und ähnlichen Wesen ist. Man stellt die Bohne gewöhnlich als ein deutliches Muster der Keimung auf. Man nehme eine Bohne, noch ehe sie keimt, in ihrem ganz eingewickelten Zustande, und man findet nach Eröffnung derselben erstlich die zwei Samenblätter, die man nicht glücklich mit dem Mutterkuchen vergleicht: denn es sind zwei wahre, nur aufgetriebene und mehlicht ausgefüllte Blätter, welche auch an Licht und Luft grün werden. Ferner entdeckt man schon das Federchen, welches abermals zwei ausgebildetere und weiterer Ausbildung fähige Blätter sind. Bedenkt man dabei, daß hinter jedem Blattstiele ein Auge, wo nicht in der Wirklichkeit, doch in der Möglichkeit ruht; so erblickt man in dem uns einfach scheinenden Samen schon eine Versammlung von mehrern Einzelheiten, die man einander in der Idee gleich und in der Erscheinung ähnlich nennen kann.
Daß nun das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich, oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur, das wir in unsern Blättern zu entwerfen gedenken.
Eine Instanz aus dem Tierreich der niedrigsten Stufe führen wir noch zu mehrerer Anleitung hier vor. Es gibt Infusionstiere, die sich in ziemlich einfacher Gestalt vor unserm Auge in der Feuchtigkeit bewegen, sobald diese aber aufgetrocknet, zerplatzen und eine Menge Körner aus-schütten, in die sie wahrscheinlich bei einem naturgemäßen Gange sich auch in der Feuchtigkeit zerlegt und so eine unendliche Nachkommenschaft hervorgebracht hätten. Doch genug hievon an dieser Stelle, da bei unserer ganzen Dar-stellung diese Ansicht wieder hervortreten muß.
Wenn man Pflanzen und Tiere in ihrem unvollkommen-sten Zustande betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden.Ein Lebenspunkt, starr, beweglich oder halbbeweglich, ist das, was unserm Sinne kaum bemerkbar ist. Ob diese ersten Anfänge, nach beiden Seiten determinabel, durch Licht zur Pflanze, durch Finsternis zum Tier hinüberzuführen sind, getrauen wir uns nicht zu entscheiden, ob es gleich hierüber an Bemerkungen und Analogie nicht fehlt. Soviel aber kön-nen wir sagen, daß die aus einer kaum zu sondernden Ver-wandtschaft als Pflanzen und Tiere nach und nach hervor-tretenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, so daß die Pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht.
Gemmation und Prolifikation sind abermals zwei Haupt-maximen des Organismus, die aus jenem Hauptsatz der Koexistenz mehrer gleichen und ähnlichen Wesen sich herschreiben und eigentlich jene nur auf doppelte Weise aussprechen. Wir werden diese beiden Wege durch das ganze organische Reich durchzuführen suchen, wodurch sich manches auf eine höchst anschauliche Weise reihen und ordnen wird.
Indem wir den vegetativen Typus betrachten, so stellt sich uns bei demselben sogleich ein Unten und Oben dar. Die untere Stelle nimmt die Wurzel ein, deren Wirkung nach der Erde hingeht, der Feuchtigkeit und der Finsternis angehört, da in gerade entgegengesetzter Richtung der Stengel, der Stamm, oder was dessen Stelle bezeichnet, gegen den Himmel, das Licht und die Luft emporstrebt.
Wie wir nun einen solchen Wunderbau betrachten und die Art, wie er hervorsteigt, näher einsehen lernen, so begeg-net uns abermals ein wichtiger Grundsatz der Organisation:
daß kein Leben auf einer Oberfläche wirken und daselbst seine hervorbringende Kraft äußern könne; sondern die ganze Lebenstätigkeit verlangt eine Hülle, die gegen das äußere rohe Element, es sei Wasser oder Luft oder Licht, sie schütze, ihr zartes Wesen bewahre, damit sie das, was ihrem s Innern spezifisch obliegt, vollbringe. Diese Hülle mag nun als Rinde, Haut oder Schale erscheinen, alles was zum Leben hervortreten, alles was lebendig wirken soll, muß eingehüllt sein. Und so gehört auch alles, was nach außen gekehrt ist, nach und nach frühzeitig dem Tode, der Verwesung an. Die =~ Rinden der Bäume, die Häute der Insekten, die Haare und Federn der Tiere, selbst die Oberhaut des Menschen sind ewig sich absondernde, abgestoßene, dem Unleben hinge-gebene Hüllen, hinter denen immer neue Hüllen sich bilden, unter welchen sodann, oberflächlicher oder tiefer, das Leben =s sein schaffendes Gewebe hervorbringt.

Jena, 1807.


BETRACHTUNG ÜBER MORPHOLOGIE

Bezeichnung und Absonderung des Feldes, worin gear-beitet wird.
Phänomen der organischen Struktur.
Phänomen der einfachsten, die eine bloße Aggregation der Teile zu sein scheint, oft aber ebenso gut durch Evo-lution oder Epigenese zu erklären wäre.
Steigerung dieses Phänomens und Vereinigung dieser Struktur zur tierischen Einheit.
Form.
Notwendigkeit, alle Vorstellungsarten zusammenzuneh-men, keinesweges die Dinge und ihr Wesen zu ergründen, sondern von dem Phänomene nur einigermaßen Rechenschaft zu geben und dasjenige, was man erkannt und gesehen hat, andern mitzuteilen.

Diejenigen Körper, welche wir organisch nennen, haben die Eigenschaft, an sich oder aus sich ihresgleichen hervor-
zubringen.
Dieses gehört mit zum Begriff eines organischen Wesens, und wir können davon weiter keine Rechenschaft geben.
Das Neue, Gleiche ist anfangs immer ein Teil desselbigen und kommt in diesem Sinne aus ihm hervor. Dieses begün-stigt die Idee von Evolution; das Neue kann sich aber nicht aus dem Alten entwickeln, ohne daß das Alte durch eine gewisse Aufnahme äußerer Nahrung zu einer Art von Vollkommenheit gelangt sei. Dieses begünstigt den Begriff der Epigenese. Beide Vorstellungsarten sind aber roh und grob gegen die Zartheit des unergründlichen Gegenstandes.
An einem lebendigen Gegenstand fällt uns zuerst seine Form im ganzen in die Augen, dann die Teile dieser Form, ihre Gestalt und Verbindung.
Mit der Form im allgemeinen und mit dem Verhältnis und der Verbindung der Teile, insofern sie äußerlich sicht-bar sind, beschäftigt sich die Naturgeschichte, insofern sie sich dem Auge aber erst darlegen, wenn die Gestalt getrennt ist, nennen wir diese Bemühung die Zergliederungskunst; sie geht nicht allein auf die Gestaltader Teile, sondern auch auf die Struktur derselben im Innern und ruft alsdann wie billig das Vergrößerungsglas zu Hülfe.
Wenn dann so auf diese Weise der organische Körper =s mehr oder weniger zerstört worden ist, so daß seine Form aufgehoben ist und seine Teile als Materie betrachtet werden können, dann tritt früh oder später die Chemie ein und gibt uns neue und schöne Aufschlüsse über die letzten Teile und ihre Mischung.
Wenn wir nun aus allen diesen einzeln beobachteten Phänomenen dieses zerstörte Geschöpf wieder palingene-sieren und es wieder lebendig in seinem gesunden Zustande betrachten, so nennen wir dieses unsere physiologischen Bemühungen.
Da nun die Physiologie diejenige Operation des Geistes ist, da wir aus Lebendigem und Totem, aus Bekanntem und Unbekanntem, durch Anschauen und Schlüsse, aus Voll-ständigem und Unvollständigem ein Ganzes zusammensetzen wollen, das sichtbar und unsichtbar zugleich ist, dessen Außenseite uns nur als ein Ganzes, dessen Inneres uns nur als ein Teil und dessen Äußerungen und Wirkungen uns immer geheimnisvoll bleiben müssen, so läßt sich leicht einsehen, warum die Physiologie so lange zurückbleiben mußte, und warum sie vielleicht ewig zurückbleibt: weil der Mensch seine Beschränkung immer fühlt und sie selten anerkennen will.
Die Anatomie hat sich auf einen solchen Grad der Genauig-keit und Bestimmtheit erhoben, daß ihre deutliche Kenntnis schon für sich eine Art von Physiologie ausmacht.
Die Körper werden bewegt, insofern sie eine Länge, Breite und Schwere haben, Druck und Stoß auf sie wirkt, und sie auf eine oder die andere Weise von der Stelle gebracht werden können. Deshalb haben Männer, welchen diese Naturgesetze gegenwärtig und bekannt waren, sie nicht ohne Nutzen auf den organischen Körper und seine Bewe-gungen angewandt.
So hat auch die Chemie die Veränderung der kleinsten Teile sowie ihre Zusammensetzung genau beobachtet, und ihre letzte wichtige Tätigkeit und Feinheit gibt ihr mehr als jemals ein Recht ihre Ansprüche zu Enthüllung organischer Naturen geltend zu machen.
Aus allem diesem, wenn man auch das übrige, was ich hier übergehe, nicht in Betracht zieht, sieht man leicht ein, daß man Ursache hat, alle Gemütskräfte aufzubieten, wenn wir im ganzen nach Einsicht dieser Verborgenheiten streben, daß man Ursache hat, alle innere und äußere Werkzeuge zu brauchen und alle Vorteile zu benutzen, wenn wir an diese immer unendliche Arbeit uns heranwagen. Selbst eine ge-wisse Einseitigkeit ist dem Ganzen nicht schädlich; es halte immer ein jeder seinen eignen Weg für den besten, wenn er ihn nur recht ebnet und aufräumt, so daß die Folgenden bequemer und schneller denselben zurücklegen.

Rekapitulation der verschiedenen Wissenschaften.

a) Kenntnis der organischen Naturen nach ihrem Habitus und nach dem Unterschied ihrer Gestaltsverhältnisse.
Naturgeschichte.
b) Kenntnis der materiellen Naturen überhaupt als Kräfte und in ihren Ortsverhältnissen.
Naturlehre.
c) Kenntnis der organischen Naturen nach ihren innern und äußern Teilen, ohne aufs lebendige Ganze Rücksicht zu nehmen.
Anatomie.
d) Kenntnis der Teile eines organischen Körpers insofern er aufhört organisch zu sein, oder insofern seine Organisation nur als stoffhervorbringend und als stoffzusammengesetzt angesehen wird.
Chemie.
e) Betrachtung des Ganzen insofern es lebt und diesem Leben eine besondere physische Kraft untergelegt wird.
Zoonomie.
f) Betrachtung des Ganzen insofern es lebt und wirkt und diesem Leben eine geistige Kraft untergelegt wird.
Psychologie.
g) Betrachtung der Gestalt sowohl in ihren Teilen als im gan-zen, ihren Übereinstimmungen und Abweichungen ohne alle andere Rücksichten.
Morphologie.
h) Betrachtung des organischen Ganzen durch- Vergegen-wärtigung aller dieser Rücksichten und Verknüpfung der-
selben durch die Kraft des Geistes.

Johann Wolfgang von Goethe
Hamburger Ausgabe Bd 13
Naturwissenschaftliche Schriften s 123

Betrachtung über Morphologie überhaupt

Die Morphologie kann als eine Lehre für sich und als eine Hülfswissenschaft der Physiologie angesehen werden. Sie ruht im ganzen auf der Naturgeschichte, aus der sie die Phänomene zu ihrem Behufe herausnimmt. Ingleichen auf der Anatomie aller organischen Körper und besonders der Zootomie.
Da sie nur darstellen und nicht erklären will, so nimmt sie von den übrigen Hülfswissenschaften der Physiologie so wenig als möglich in sich auf, ob sie gleich so wenig die Kraft- und Ortverhältnisse des Physikers als die Stoff- und Mischungsverhältnisse des Chemikers außer Augen läßt, sie wird durch ihre Beschränkung eigentlich nur zur besondern Lehre, sieht sich überall als Dienerin der Physiologie und mit den übrigen Hülfswissenschaften koordiniert an.
Indem wir in der Morphologie eine neue Wissenschaft aufzustellen gedenken, zwar nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigne Gestalt geben muß als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat, so wollen wir zuvörderst erst dieses letzte darlegen und ihr Verhältnis zu den übrigen verwandten Wissenschaften zeigen, sodann ihren Inhalt und die Art ihrer Darstellung vorlegen.
Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten;
sie gehört daher zu den Naturwissenschaften, deren beson-dere Zwecke wir nunmehr durchgehen.
Die Naturgeschichte nimmt die mannigfaltige Gestalt der organischen Wesen als ein bekanntes Phänomen an. Es kann ihr nicht entgehen, daß diese große Mannigfaltigkeit den-noch eine gewisse Übereinstimmung teils im allgemeinen, teils im besondern zeigt, sie führt nicht nur die ihr bekannten Körper vor, sondern sie ordnet sie bald in Gruppen, bald in Reihen nach den Gestalten, die man sieht, nach den Eigen-schaften, die man aufsucht und erkennt, und macht es da-durch möglich, die ungeheure Mässe zu übersehen; ihre Arbeit ist doppelt: teils immer neue Gegenstände aufzu-finden, teils die Gegenstände immer mehr der Natur und den Eigenschaften gemäß zu ordnen und alle Willkür, inso-fern es möglich wäre, zu verbannen.
Indem nun also die Naturgeschichte sich an die äußere Erscheinung der Gestalten hält, und sie im ganzen betrach-tet, so dringt die Anatomie auf die Kenntnis der innern Struktur, auf die Zergliederung des menschlichen Körpers als des würdigsten Gegenstandes und desjenigen, der so mancher Beihülfe bedarf, die ohne genaue Einsicht in seine Organisation ihm nicht geleistet werden kann. In der Ana-tomie der übrigen organisierten Geschöpfe ist vieles ge-schehen, es liegt aber so zerstreut, ist meist so unvollständig und manchmal auch falsch beobachtet, daß für den Natur-forscher die Masse beinah unbrauchbar ist und bleibt.

BETRACHTUNG ÜBER MORPHOLOGIE 125

Die Erfahrung, die uns Naturgeschichte und Anatomie geben, teils zu erweitern und zu verfolgen, teils zusammenzufassen und zu benutzen, hat man teils fremde Wissen-schaften angewandt, verwandte herbeigezogen, auch eigne Gesichtspunkte festgestellt, immer um das Bedürfnis einer allgemeinen physiologischen Übersicht auszufüllen, und man hat dadurch, ob man gleich nach menschlicher Weise gewöhnlich zu einseitig verfahren ist und verfährt, dennoch den Physiologen der künftigen Zeit trefflich vorgearbeitet. Von dem Physiker im strengsten Sinne hat die Lehre der organischen Natur nur die allgemeinen Verhältnisse der Kräfte und ihrer Stellung und Lage in dem gegebenen Welt-raum nehmen können. Die Anwendung mechanischer Prinzi-pien auf organische Naturen hat uns auf die Vollkommenheit der lebendigen Wesen nur desto aufmerksamer gemacht, und man dürfte beinah sagen, daß die organischen Naturen nur desto vollkommner werden, je weniger die mechanischen Prinzipien bei denselben anwendbar sind. Dem Chemiker, der Gestalt und Struktur aufhebt und bloß auf die Eigenschaften der Stoffe und auf die Verhält-nisse ihrer Mischungen achthat, ist man auch in diesem Fache viel schuldig, und man wird ihm noch mehr schuldig werden, da die neueren Entdeckungen die feinsten Trennun-gen und Verbindungen erlauben, und man also auch den unendlich zarten Arbeiten eines lebendigen organischen Körpers sich dadurch zu nähern hoffen kann. Wie wir nun schon durch genaue Beobachtung der Struktur eine anato-mische Physiologie erhalten haben, so können wir mit der Zeit auch eine physisch-chemische uns versprechen, und es ist zu wünschen, daß beide Wissenschaften immer so fortschreiten mögen, als wenn jede allein das ganze Geschäft vollenden wollte.
Da sie beide aber nur trennend sind und die chemischen Zusammensetzungen eigentlich nur auf Trennungen be-ruhen, so ist es natürlich, daß diese Arten, sich organische Körper bekannt zu machen und vorzustellen, nicht allen Menschen genugtun, deren manche die Tendenz haben von einer Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwicklen und die Teile darauf wieder unmittelbar zurückzuführen.
Hierzu gibt uns die Natur organischer Körper den schönsten Anlaß: denn da die vollkommensten derselben uns als eine von allen übrigen Wesen getrennte Einheit erscheinet, da wir uns selbst einer solchen Einheit bewußt sind, da wir den vollkommensten Zustand der Gesundheit nur dadurch gewahr werden, daß wir die Teile unseres Ganzen nicht, sondern nur das Ganze empfinden, da alles dieses nur exi-stieren kann, insofern die Naturen organisiert sind, und sie nur durch den Zustand, den wir das Leben nennen, organi-siert und in Tätigkeit erhalten werden können: so war nichts natürlicher, als daß man eine Zoonomie aufzustellen ver-suchte und denen Gesetzen, wornach eine organische Natur zu leben bestimmt ist, nachzuforschen trachtete; mit völliger Befugnis legte man diesem Leben, um des Vortrags willen, eine Kraft unter, man konnte, ja man mußte sie annehmen, weil das Leben in seiner Einheit sich als Kraft äußert, die in keinem der Teile besonders enthalten ist.
Wir können eine organische Natur nicht lange als Einheit betrachten, wir können uns selbst nicht lange als Einheit denken, so finden wir uns zu zwei Ansichten genötigt und wir betrachten uns einmal als ein Wesen, das in die Sinne fällt, ein andermal als ein anderes, das nur durch den innern Sinn erkannt oder durch seine Wirkungen bemerkt werden kann.
Die Zoonomie zerfällt daher in zwei nicht leicht vonein-ander zu trennende Teile, nämlich in die körperliche und in die geistige. Beide können zwar nicht voneinander getrennt werden, aber der Bearbeiter dieses Faches kann von der einen oder der andern Seite ausgehen und so einer oder der andern das Übergewicht verschaffen.
Nicht aber allein diese Wissenschaften, wie sie hier auf-gezählt worden sind, verlangen nur ihren Mann allein, son-dern sogar einzelne Teile derselben nehmen die Lebenszeit des Menschen hin; eine noch größere Schwierigkeit entsteht daher, daß diese sämtliche Wissenschaften beinah nur von Ärzten getrieben werden, die denn sehr bald durch die Ausübung, so sehr sie ihnen auch von einer Seite zu Aus-bildung der Erfahrung zu Hülfe kömmt, doch immer von weiterer Ausbreitung abgehalten werden.

Man sieht daher wohl ein, daß demjenigen, der als Physio-log alle diese Betrachtungen zusammenfassen soll, noch viel vorgearbeitet werden muß, wenn derselbe künftig alle diese Betrachtungen in eins fassen und, insofern es dem mensch-lichen Geist erlaubt ist, dem großen Gegenstande gemäß s erkennen soll. Hierzu gehört zweckmäßige Tätigkeit von allen Seiten, woran es weder gefehlt hat noch fehlt, und bei der jeder schneller und sichrer fahren würde, wenn er zwar von Einer Seite, aber nicht einseitig arbeitete und die Ver-dienste aller übrigen Mitarbeiter mit Freudigkeit anerkennte, anstatt, wie es gewöhnlich geschieht, seine Vorstellungsart an die Spitze zu setzen.
Nachdem wir nun also die verschiedenen Wissenschaften, die dem Physiologen in die Hand arbeiten, aufgeführt und ihre Verhältnisse dargestellt haben, so wird es nunmehr Zeit sein, daß sich die Morphologie als eine besondere Wissen-schaft legitimiert.
So nimmt man sie auch; und sie muß sich als eine beson-dere Wissenschaft erst legitimieren, indem sie das, was bei andern gelegentlich und zufällig abgehandelt ist, zu ihrem Hauptgegenstande macht, indem sie das, was dort zerstreut ist, sammelt, und einen neuen Standort feststellt, woraus die natürlichen Dinge sich mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit betrachten lassen. Sie hat den großen Vorteil, daß sie aus Elementen besteht, die allgemein anerkannt sind, daß sie mit keiner Lehre im Widerstreite steht, daß sie nichts wegzu-räumen braucht, um sich Platz zu verschaffen, daß die Phänomene, mit denen sie sich beschäftigt, höchst bedeutend sind, und daß die Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt, der menschlichen Natur angemessen und angenehm sind, so daß auch ein fehlgeschla-gener Versuch darin selbst noch Nutzen und Anmut ver-binden könnte.