"Die Kunst ist der Notschrei des Menschen,
der in sich das Schicksal der ganzen Menschheit erlebt."

Dieses Zitat von Arnold Schönberg habe ich in einem Aufnahmestudio des Saarländisches Rundfunks an die Wand gepinnt gesehen und gelesen. Die erste spontane Reaktion war so stark, daß ich mir den Ausspruch sofort aufgeschrieben habe. Nun habe ich mich seit einigen Monaten immer wieder mit diesen Worten beschäftigt und viele verschiedene Aspekte davon kennengelernt.

Die gemachten Erfahrungen und Erfahrungen möchte ich schriftlich festhalten und damit vielleicht anregen, daß sich auch andere Menschen damit beschäftigen und sich darüber austauschen:

Die erste Frage war für mich: Ist dieser Satz so verstehen, daß ich fähig sein sollte, das Schicksal der gesamten Menschheit in mir zu erleben und den dabei aufsteigende Notschrei als Kunst ausdrücken zu können?
Kunst als einen Notschrei , als Schrei der Not anzusehen war mir eigentlich nicht fremd. Wenn ich auf das schaue, was uns heute als Kunst angeboten wird, dann habe ich oftmals damit meine liebe Not. Andererseits ist es nicht so, daß von Kunst Schönheit und ein gewisses Wohlbehagen erwartet wird? Zeitgenössische Kunst weigert sich in den meisten Fällen diese Erwartungen zu erfüllen. Zudem gesellt sich beim Betrachten der Kunstwerke eine unaussprechliche Hilflosigkeit. Was soll das, was soll das sein?

"Die Kunst ist der Notschrei des Menschen, der in sich das Schicksal der ganzen Menschheit erlebt."

Es sind zwei Fähigkeiten, die angesprochen werden: Die erste Fähigkeit ist etwas erleben zu können, was alle anderen Menschen erleben. Nämlich ein Schicksal. Was ist jedoch konkret damit gemeint. Zuerst hatte ich den Satz so verstanden, daß der Künstler in der Lage sein müßte, das Schicksal aller anderen Menschen nachzuempfinden. Wer könnte sich da noch aufrichtig als Künstler verstehen , wenn das als Voraussetzung für ein Kunstwerk verstanden würde. Hat doch jeder Mensch vollauf zu tun sein eigenes Schicksal zu erleben und zu verstehen.
Erst die Frage, ob nicht damit jenes Schicksal gemeint ist, das allen Menschen gemeinsam ist. Was wäre denn ein solches. Nun, daß der Mensch geboren lebt und stirbt, darüber ist leicht eine Einigung zu finden. Dieses Werden, Sein und Vergehen auszudrücken als Kunst zu bezeichnen, darüber wird vielleicht auch noch mit Vorbehalten Zustimmung zu erreichen sein. Über diese Tatsache, des Werdens, Seins und Vergehens in einen Notschrei zu verfallen, scheint doch ein bißchen dramatisch sein. Unabänderliches und Unabwendbares zum Gegenstand menschlicher Tätigkeit, menschlichen Strebens zu machen, kennzeichnet das etwa ein "menschliches Schicksal"?

"Die Kunst ist der Notschrei des Menschen,
der in sich das Schicksal der ganzen Menschheit erlebt."

Gibt es etwas, im Leben des Menschen, daß heute allen Menschen gemeinsam ist und das mit einem Notschrei ausgedrückt werden kann oder ausgedrückt werden möchte. Dies ist die nächste Frage, die ich mir gestellt habe. Dabei bin ich auf das Spannungsfeld - Individualität und Gesellschaft - Einzelwesen und Menschheit gestossen. In diesem Spannungsfeld finden wir die Extreme von isolierten Einzelgänger bis fanatisierten Massenbewegungen. In den Offenbarungen dieser Möglichkeiten können wir vieles sehen, was einen Notschrei zu veranlassen imstande wäre. Ein Schrei gelte wohl der nicht gefundenen oder nicht auffindbaren Mitte, als lebensfähigem Ausgleich zwischen den Extremen.

"Die Kunst ist der Notschreides Menschen,
der in sich das Schicksal der ganzen Menschheit erlebt."

Die Kunst als der Notschrei eines Menschen auf dem Weg diese Mitte zu schaffen und darin "die Schicksalsaufgabe der Menschheit und des Einzelmenschen zu sehen" könnte uns auf neue Wege führen.
Ist es nicht ein besonders schmerzliches Erlebnis, daß es heute besonders schwer ist die Mitte in uns selber und unseren Verhältnissen zur Außenwelt und unseren Bezeihungen zu den Mitmenschen zu schaffen. Daß das Vermittelnde in unserer Zeit besonders fehlt und oft an den Widerständen scheitert, ist unbestreitbar.
Einen großen Mangel erleben, bedeutet Not. Aber es gibt auch viele Menschen, die ihre Einseitigkeiten auch gar nicht als Not erleben. Zumindest nicht unmittelbar: die Reichen, die Mächigen die Erfolgreichen. Dafür ist der Notschrei der anderen Hälfte umso kräftiger.
Diesen Notschrei so ausdrücken zu können, daß es für andere Menschen hörbar, sichtbar und auch annehmbar wird, das ist Kunst. Zu schweigen davon, daß der Notschrei nachvollziehbar wird und verstehbar wird als ein Schicksalsaspekt der ganzen Menschheit.
In diesem Sinn wird deutlich, daß Kunst nicht von jedem Menschen ohne weiteres "gemacht" werden kann. Dies bedeutet aber auch nicht, daß nicht ein jeder Mensch die Anlage hätte, die Not des anderen Menschen wahrzunehmen und mitzuvollziehen.

Wir können feststellen, daß gerade die ernsthafte und ausdauernde künstlerische Tätigkeit, die Fähigkeit Notschreie zu hören und zu sehen in außergewöhnlichem Maß zu entwickeln hilft. Liegt darin die oft instinkthafte Abwehr mancher Menschen gegen eine künstlerische Betätigung. Denn er könnte ja unfähig werden, das Leid und die Not des Mitmenschen zu übergehen.

"Die Kunst ist der Notschrei des Menschen,
der in sich das Schicksal der ganzen Menschheit erlebt."

Haben wir nun das Fehlen und den Verlust der Mitte als allen Menschen gemeinsames Schicksal erkannt, so könnten wir jene Tendenzen charakterisieren, bei denen sich die Einseitigkeiten nicht oder nur mit allegrößter Anstrengung ausgleichen lassen. Tendenzen, die im einzelnen Menschen, in Menschengruppen genauso aufzufinden sind wie in der gesamten Menschheit.

Ein Teil macht sich bemerkbar als nüchternen Rationalismus, der ohne Emotionen die Dinge und Verhältnise analysiert, dementspechend plant und mit zielsicherem Griff handelt. Abstraktionsvermögen und Nützlichkeitskriterien sind hervorstechende Eigenschaften, die zur Mechanisierung und Automation befähigen.
Auf der anderen Seite finden wir Träumer, Phantasten und Illusionisten, deren Weltsicht keinen Zugang zu einer sinnvollen Gestaltung der Welt ermöglicht. Dem gegenüber stehen Tendenzen, die ihr Heil in dem Aktionismus suchen nach dem Motto:.
Die Faulen werden geschlachtet, die Welt wird fleißig
Die Alten werden geschlachtet, die Welt wird jung.
Die Kranken werden geschlachtet, die Welt wird gesund.
Die Bösen werden geschlachtet, die Welt wird gut.
(Erich Fried, Maßnahmen)

"Die Kunst ist der Notschrei des Menschen,
der in sich das Schicksal der ganzen Menschheit erlebt."

Will dieser Notschrei überhaupt gehört werden? Wie reagieren die Menschen auf solche Notschreie jener Menschen, die sich als Kunstwerkerzeuger verstehen.
Haben sie Erfahrungen und Erlebnisse in dieser Richtung, wär ich dankbar für ihre Mitteilungen.